© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

„Meine Kugel ist schon gegossen“
Im Visier der extremen Rechten: Der Ermordung Matthias Erzbergers ging vor 100 Jahren ein Attentatsversuch voraus
Jürgen W. Schmidt

Als der deutsche Reichsfinanzminister Matthias Erzberger nach einer Gerichtsverhandlung am 28. Januar 1920 das Justizgebäude verließ, gab der vormalige Fähnrich Oltwig von Hirschfeld zwei Schüsse auf ihn ab, von denen einer Erzberger leicht an der Schulter streifte. Der Attentäter wurde nur zu 18 Monaten Haft verurteilt. Seit jenem Attentatsversuch war der sonst sehr robuste Matthias Erzberger psychologisch angeschlagen und vertraute seiner Tochter deprimiert an, daß die Kugel für ihn schon gegossen sei.  

Als Zentrumsabgeordneter für den Wahlkreis Biberach hatte der im württembergischen Buttenhausen am 20. September 1875 als Schneidersohn geborene Volksschullehrer Matthias Erzberger eine schnelle, aufsehenerregende politische Karriere durchlaufen und gehörte zu den bekanntesten deutschen Politikern. Seit dem Jahr 1903 saß der damals 28jährige durchgehend im Reichstag, beschäftigte sich mit Haushaltsfragen und geißelte „Kolonialskandale“. Doch am grobschlächtig und demagogisch argumentierenden, aber im Parlament bienenfleißig agierenden Abgeordneten Erzberger schieden sich die Meinungen im Reich ziemlich heftig. 

Während katholische und liberale Kreise insbesondere in Süddeutschland auf Erzberger schworen, sah man in ihm auf der rechten Seite des politischen Spektrums mehr den „Reichsverderber“ Erzberger, welcher sich zwar anfangs im beginnenden Weltkrieg für einen „Siegfrieden“ engagierte. Doch ab 1916 wechselte er von dieser unerbittlichen Haltung in die politisch andere Richtung und trat nunmehr als „Friedensfreund“ für einen „Frieden ohne Annexionen“ auf. Dabei gelang es Erzberger im preußischen Kriegsministerium derart Angst und Schrecken zu verbreiten, daß man nicht daran zu denken wagte, den gesunden 41jährigen Mann ins Heer einzuberufen. Auf militärischer und konservativer Seite nahm man Erzberger ab Ende 1918 ganz besonders übel, daß er als frisch ernannter „Staatssekretär ohne Portefeuille“ namens der deutschen Regierung am 11. November 1918 den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnete. 

Später beging Erzberger im Frühsommer 1919 die große Unbesonnenheit, als Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung ausgerechnet kurz vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, welche er als zwangsläufig befürwortete, ins Gästebuch einer Weimarer Weinstube den Vers zu schreiben: „Erst mach dein Sach’, dann trink und lach“. Aufgebrachte Reichswehrangehörige wollten Erzberger deswegen körperlich mißhandeln, weshalb er aus Weimar fluchtartig verschwand. Ein einflußreicher Feind erstand Matthias Erzberger im konservativen Finanzpolitiker Karl Helfferich, der ihm in seiner 1919 erschienenen Broschüre „Fort mit Erzberger“ die „unsaubere Vermischung politischer Tätigkeit und eigener Geldinteressen“ zum Vorwurf machte und ihn zusätzlich verhöhnte, weil er gegen diesen bösen Vorwurf nicht zu klagen wage. Wahr am Vorwurf ist zumindest, daß Erzberger persönliche Vorteile keineswegs verschmähte und allgemein ein sehr intriganter Politiker war. Zentrum-Reichstagsabgeordnete sprachen intern sehr negativ über ihren Fraktionskollegen Erzberger und der spätere Reichspostminister Johann Giesberts (Zentrum) sagte Ende 1918 zum deutschen Geheimdienstchef Major Walter Nicolai, daß er persönlich Erzberger nur für eine Art von „großem Hauptmann von Köpenick“ halte. 

Erzberger mutiert zur Haßfigur der Rechten

Erzberger, welcher seit Juni 1919 das Amt als Reichsfinanzminister bekleidete, verklagte Karl Helfferich schließlich doch wegen Beleidigung. Doch als das Gericht Helfferich im März 1920 nur zu einer symbolischen Geldstrafe verurteilte, trat der dadurch brüskierte Erzberger am selben Tag vom Ministeramt zurück. In rechten Kreisen mutierte Erzberger daraufhin zu einer Haßfigur. Die beiden Ex-Marineoffiziere Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz ermordeten Erzberger im Auftrag der Organisation Consul am 26. August 1921 während eines Kuraufenhaltes in Bad Griesbach mit mehreren Pistolenschüssen. Die beiden Attentäter konnten mit Hilfe ihrer Hintermänner im August 1921 ins Ausland flüchten und kehrten erst 1933 nach Deutschland zurück, wo ihre Mordtat sogleich amnestiert wurde.

Ausgerechnet der Tod durch die Hand rechter Mörder glättete das stark angegriffene Renommee von Reichsminister a. D. Erzberger wieder, der seit seinem Rücktritt 1920 ohne politisches Amt lebte, doch im Juni 1921 der Führung der Zentrumspartei angekündigt hatte, nun bald wieder ins politische Leben zurückkehren zu wollen. Darauf hatten gewerkschaftsnahe Zentrumsführer um Adam Stegerwald nicht gerade mit Begeisterungsstürmen reagiert.

Sein süddeutscher Landsmann Reichskanzler Joseph Wirth hielt bei Erzbergers Beerdigung in Biberach die Trauerrede, in welcher er die Verdienste des Ermordeten um Deutschland beschwor und zugleich mit der Gefahr von rechts abrechnete. 

Die Grabstätte von Erzberger in Biberach ist heute noch erhalten, und in seinem Geburtshaus in Buttenhausen wurde eine „Erinnerungsstätte Matthias Erzberger“ eingerichtet. Unter Bundestagspräsident Norbert Lammert erhielt das Bundestagsgebäude Unter den Linden 71 in Berlin 2017 die Bezeichnung „Matthias-Erzberger-Haus“, und der Festsaal des Bundesfinanzministeriums trägt bereits seit 2011 seinen Namen.