© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Ein Krieg kommt in Bewegung
Ein beachtliches Werk zum Polnisch-Sowjetischen Krieg
Matthias Bäkermann

Zwischen Ostsee und Schwarzem Meer offenbarte sich nach dem Rückzug der deutschen Besatzungstruppen Ende 1918 aus der Ukraine und Weißrußland ein Machtvakuum. Neben der Gründung der „Ukrainischen Volksrepublik“, die sich vom Russischen Reich unabhängig erklärte, weckten andere Regionen zwischen Memel und Dnepr Begehrlichkeiten des jungen polnischen Nationalstaates, um die „Kresy“, die Ostgebiete der alten Rzeczpospolita vor 1772, wieder unter die Kontrolle Warschaus zu bringen. 

Als im Frühjahr 1919 polnische Truppen nach Osten vorstießen, trafen sie bis auf einige Geplänkel kaum auf Gegenwehr. Bald standen Soldaten unter Józef Pilsudskis Befehl jenseits der Beresina, im Süden konnte sogar Kiew für kurze Zeit unter Kontrolle gebracht werden. 

Spätestens Mitte 1919 begann sich die bis dahin im Bürgerkrieg strapazierte Rote Armee zu formieren und konnte die polnische Armee bis zum Dezember auf die in Paris festgelegte Curzon-Linie (etwa die heutige Ostgrenze Polens) zurückdrängen. Es sah schon so aus, als ob die Roten die geschwächten Polen endgültig schlagen und Warschau einnehmen sollten, als „das Wunder an der Weichsel“ im Sommer 1920 die Absicht der Sowjets zunichte machte. Daß daran ebenso Pilsudskis militärisches Geschick wie auch eklatante strategische Fehler der Roten Armee den entscheidenden Anteil hatten, daran erinnert der Historiker Stephan Lehnsteadt in seiner lesenswerten Analyse des „vergessenen Sieges“.

Tatsächlich zeichneten den Polnisch-Sowjetischen Krieg manche Eigenheiten aus, die Auswirkungen auf die spätere Geschichte hatten. Da sich anders als im Ersten Weltkrieg keine in Stellungen eingegrabenen Millionenheere gegenüberstanden, fiel der Kavallerie noch einmal eine besondere Rolle zu. Die Folge war, daß Polen bis zum Zweiten Weltkrieg dieser Waffengattung ein höheres Gewicht zumaß. Die Niederlage vor Warschau sollte Josef Stalin, 1920 Befehlshaber der Lemberger Front, nicht zuletzt in der Zerschlagung Polens 1939 rächen. Seine früheren strategischen Fehler wiederum fanden ihr grausames Echo in den „Säuberungen“ der dreißiger Jahre, bei denen er aus der damaligen Führung der Roten Armee fast alle Zeugen seines Versagens ermorden ließ. 

Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919/21 und die Entstehung des modernen Osteuropa. Verlag C. H. Beck, München 2019, broschiert, 221 Seiten, 14,95 Euro