© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Profiling made in East Germany
Von wegen FBI: Ermittler in der DDR haben die empirische Täterhypothese erfunden
Martina Meckelein

In der Tribunalszene kurz vor Ende des Filmklassikers „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ wimmert Peter Lorre, der den Kindermörder spielt: „Wer weiß denn, wie es in mir aussieht?“

Ja, wer weiß, wie es in Serienmördern aussieht? Filme wie „Das Schweigen der Lämmer“, „Copykill“ oder „Sieben“ sind Garanten für das Klingeln in der Kinokasse. Ein moderner Held ist der FBI-Profiler, der aktuell durch Serien wie „Criminal Minds“, „Manhunt: Una-bomber“ oder „Mindhunter“ geprägt wird. Psychologen, die nur aufgrund einiger Tatortfotos die Sozialisation, den Bildungsstand, das Geschlecht und die Hautfarbe eines Serienmörders aus dem Ärmel zu schütteln scheinen. 

Tja, diese amerikanischen Ermittler haben es eben drauf, oder? Die Geschichte der Serienmörder und ihrer „Enttarner“ basiert auf Vorurteilen. So ist die alleinige Fokussierung auf die sexuelle Motivation eines Serienmörders viel zu eng. Auch ihr Vorkommen wurde zum Beispiel von den US-Amerikanern in Deutschland ausgemacht. Umgekehrt glauben viele Deutsche, die Amis hätten das Profiling entwickelt. Falsch, das eine wie das andere.

Denn die erste empirische Täterhypothese eines Serienmörders wurde eben nicht vom FBI, sondern im Auftrag der Deutschen Volkspolizei von dem Ostberliner Psychiater Professor Hans Szewzczyk (1923–1994) von der Charité erarbeitet. Sie war so nah an dem später gefaßten Kindermörder, daß man noch heute – 50 Jahre später – erschauert.

„Ich habe eine bestimmte Vorstellung, welchen Jungen ich zu sexuellen Handlungen nehme“, erklärte später in einem Polizei-Lehrfilm der 20jährige Erwin Hagedorn emotionslos. Hagedorn tritt auf Drängen seiner Eltern in die SED ein, spielt im Laientheater, arbeitet als Koch bei der Mitropa. Dort kann er „beruflich“ Tiere quälen: „Für mich war es eine innerliche Genugtuung zuzusehen, wie die Karpfen bzw. Aale mit ihrem Tode kämpften.“

Parallelen zu einem westdeutschen Täter

Er beläßt es nicht bei Tieren. Die ersten beiden Kinder, Mario L. und Henry S. – beide 9 Jahre alt – verschwinden am 31. Mai 1969 in Eberswalde spurlos. Erst am 13. Juni 1969 finden zwei Forstarbeiter ihre Leichen im Wald; rund fünf Kilometer von ihren Elternhäusern entfernt. Monatelang fahndet die Kripo nach dem sogenannten Eberswalder 

Knabenmörder. Selbst die Staatssicherheit ermittelt – erfolglos. Die Kripo bittet den berühmten Psychiater Szewzczyk, sich die Akten anzuschauen. Er kommt zum Schluß, daß es sich um einen noch „ziemlich jungen homophilen Sadisten“ handeln kann. Die männliche Person lebe „vermutlich in geordneten, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht asozialen Verhältnissen“. Und Szewzcyk warnt: „Der Sadismus als sexuelle Perversion ist nicht heilbar, eine Rückfallgefahr ist immer vorhanden.”

Er behält recht: Am 9. Oktober 1971 ersticht Hagedorn den 12jährigen Ronald W. Einen Tag später entdeckt die Polizei die Leiche des Kindes. Wieder schaltet die Kripo Szewzcyk ein. Das Opfer selbst, Örtlichkeit, Auffindesituation und Verletzungsmuster weisen Übereinstimmungen zu den Kindermorden vor zwei Jahren auf. Aber da ist noch etwas: eine Parallelität zum Fall des westdeutschen Kirmesmörders Jürgen Bartsch. Der pädosexuelle Sadist, ebenfalls Anfang 20, hatte zwischen 1962 und 1966 vier Jungs erstochen, mehrere überfallen. 1967 wird er in einem international Aufsehen erregenden Prozeß vom Landgericht Wuppertal zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf, der Metzgergeselle wird zu zehn Jahren Jugendstrafe und anschließender Einweisung in die Psychiatrie verurteilt.

Die DDR-Staatssicherheit bittet um die Akten, Szewzcyk wertet sie aus. Er kommt zu dem Schluß, daß der Knabenmörder aus Eberswalde, genau wie Bartsch, vor und zwischen den Morden immer wieder versucht haben muß, Kinder zu verfolgen oder sie womöglich sexuell angegangen hat. Diese Opfer könnten bisher aus Scham geschwiegen haben. Die Volkspolizei beginnt vorsichtig Schulkinder zu befragen. Und wirklich, ein Junge gibt an, 1969/70 beim Skilaufen von einem älteren Jugendlichen aus der Nachbarschaft bedroht und sexuell mißbraucht worden zu sein. Aus Angst und Scham hatte er geschwiegen. Der daraufhin festgenommene Täter ist Hagedorn.

Er stellt die DDR-Justiz vor ein Dilemma: Ein Kindermörder, der angepaßtes Mitglied der sozialistischen Gesellschaft war – wie sollte das zusammenpassen? Der Kunstgriff der Anklage: Es wurde behauptet, Hagedorn habe die Morde aufgrund einer Initialzündung begangen. Und zwar habe er gemeinsam mit seinen Eltern im Westfernsehen den Film „Es geschah am hellichten Tag“ geschaut. In ihrer Dissertation „Mordlust – Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert“ erklärt Kerstin Brückweh diese Sichtweise so: „Da im Selbstverständnis der DDR die Kriminalität dem Sozialismus wesensfremd war, mußten kriminelle Akte besonders erklärt werden.“ Eine Ursache sah man laut Gutachten „im ideologischen Einwirken der kapitalistischen Außenwelt“. Hagedorn wurde zum Tode verurteilt und starb 1972 durch einen „unerwarteten Nahschuß“.