© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Der Flaneur
Rätsel Mülltrennung
Bernd Rademacher

Seit das erste Kind aus dem Haus ist, steht ein Zimmer leer. Die internationale Sprachenschule am Ort sucht ständig Unterkünfte für Sprachschüler aus aller Welt. Die dauernd steigenden Nebenkosten durch Vermietung abzufedern, ist nicht nur finanziell förderlich, sondern auch kulturell: Wann kann man schon jeweils eine kurze Zeit mit meist Jugendlichen von allen Kontinenten zusammenwohnen? 

Wir hatten schon viele Jungen und Mädchen aus Nordamerika, Asien und Osteuropa zu Gast. Schwierig ist es mit den Amerikanern, weil die zu Hause erst ab 21 Jahren Alkohol kaufen dürfen und völlig durchdrehen, wenn sie hier an jeder Tankstelle Wein und Bier bekommen. 

Fragenzeichen schweben über dem Kopf der Brasilianerin.

Nun also eine Brasilianerin aus der Nähe von Rio de Janeiro, die erst mal einen Klimaschock erleidet – aber nicht wegen globaler Erwärmung, sondern weil sie Temperaturen unter 20 Grad nicht gewohnt ist. Meinen Hinweis per E-Mail, warme Kleidung mitzubringen, hat sie dramatisch unterschätzt, weswegen wir gestern warme Sachen kaufen waren. Es folgten lautstarke Telefonate mit Mama und Papa am Zuckerhut.

Von deutscher Küche und deutschem Bier sind alle jungen Besucher schwer begeistert, ebenso von der Solidität deutscher Häuser. Doch manches deutsche Brauchtum läßt sie ratlos zurück: „Where can I put the trash?“, fragt die Kleine von der Copa Cabana und sucht den Mülleimer. Sie hält eine leere Schachtel Brunnenkresse in der Hand. Jetzt wird’s kompliziert. Vor der Haustür erkläre ich es ihr: Die Pappschachtel kommt in die blaue Papiertonne. Das Plastikschälchen in die gelbe Wertstofftonne, die neuerdings den gelben Sack abgelöst hat. Und der Beetstreifen mit den Kresseresten kommt in die braune Biotonne. Über dem Kopf der Amazonas-Tochter schweben große Fragezeichen. Ich lache, werfe das ganze Ding einfach in die graue Restmülltonne und sage: „Just don’t care!“ Jetzt versteht sie gar nichts mehr.