© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

„Wir Alten müssen uns endlich wehren“
Sozialpolitik: Start der Facebook-Gruppe „Fridays gegen Altersarmut“ / Politisch-medialer Gegenwind
Hermann Rössler

Es ist bitterkalt vor dem Rathaus in Berlin-Spandau, trotz des Sonnenscheins. Um 14.45 Uhr stehen neben einem Polizei-Mannschaftswagen eine Frau und ein Mann. Beide frieren, ziehen wegen des eisigen Windes die Schultern hoch. „Mann, an jeder Bushaltestelle warten mehr Leutchens als hier“, sagt Michael Hübner. Der 60jährige arbeitet in der Warenanahme bei Edeka und will hier demonstrieren. Um 15 Uhr soll es losgehen: Die erste bundesweite Mahnwache gegen Altersarmut. Die Facebook-Gruppe „Fridays gegen Altersarmut“ hat dazu aufgerufen.

45jährige Berufstätigkeit kein Armutsschutz mehr

„Ich habe jetzt meinen neuen Rentenbescheid bekommen“, sagt Hübner. „Ich sollte mal eintausend Euro bekommen, nach der neuesten Berechnung sollen es nur noch 780 Euro sein.“ Er muß noch bis zum 1. April 2025 arbeiten. „Mal sehen, wieviel es dann noch gibt. Und deshalb bin ich hier, dagegen müssen wir Alten uns wehren.“

In Deutschland leben laut Statista rund 17,5 Millionen Menschen, die über 65 Jahre alt sind. Das macht 21 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Männer haben eine Lebenserwartung von 78,5 und Frauen von 83,3 Jahren. Die Früchte einer 45jährigen Berufstätigkeit sind allerdings für viele überschaubar. 27,6 Prozent der befragten 60- bis 69jährigen haben ein Nettoeinkommen von 1.000 bis 1.500 Euro, bei den über 70jährigen sind es 37,7 Prozent. Im Vergleich: Nur 21 Prozent der Gesamtbevölkerung liegen gleich niedrig. Altersarmut gibt es in allen deutschen Städten: Besuche in der Tafel, Nachsuche in Mülleimern nach Pfandflaschen und Dosen.

2003 gab es in Deutschland knapp 440.000 Empfänger von „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“. 2019 waren es bereits 1,1 Millionen – Tendenz steigend, denn für immer mehr Alte und Invaliden reicht die gesetzliche Rente nicht mehr aus. „Riestern“ & Co. sowie unbezahlbare private Berufsunfähigkeitspolicen können die laufende Rentenniveauabsenkung nicht ausgleichen. Der Niedriglohnsektor, Firmenpleiten, unterbrochene Erwerbsbiographien – die Ursachen für die wachsende Altersarmut sind bekannt.

Genau dagegen regt sich im Internet seit September 2019 Protest. Die Alten und die Erwerbsunfähigen üben Kritik an der Politik der Bundesregierung. Im virtuellen Leben mit bereits 315.000 Unterstützern bei Facebook. Und jetzt auch im richtigen Leben. Sie mucken auf, gehen auf die Straße. Und es passiert, initiiert und orchestriert von linken Gruppen und Medien genau das, was immer passiert, wenn Protest der Regierung nicht gefällt: Alle sind Nazi.

Die Seite Volksverpetzer.de beispielsweise warnt, daß immer mehr Neonazis die Gruppe „Fridays gegen Altersarmut“ mit „rechtem Gedankengut“ unterwandern. Die Internetseite, die angeblich Fake News „entlarven“ will, verlinkt zur Bestätigung ihrer Mutmaßung auf die bundesweit agierenden „Omas gegen Rechts“. Und tatsächlich fand sich auf der Internetseite der Kleinstpartei „Die Rechte“ ein Aufruf, teilzunehmen. Doch beispielsweise in Karlsruhe war der türkischstämmige Yalçin Demirkiran Initiator der ersten Mahnwache.

Mit der Zeit trudeln in Spandau immer mehr Demonstranten ein – allerdings ohne „rechte“ Fahnen und Plakate. „Naja, ich dachte, wir lernen uns erst einmal kennen“, sagt die Anmelderin Silvia Ziemke. Sie ist verunsichert durch die Berichterstattung. Mit Nazis will natürlich auch sie nichts zu tun haben. „So ein Quatsch“, sagt auch Rosemarie Loos (59). „Ich bin kein Nazi, hab’ damit nichts zu tun.“ Loos ist schwerbehindert, Osteoporose, Bandscheibenvorfall. Seit einer OP kann sie sich nur noch mühsam mit einem Rollator fortbewegen, ihre Miete zahlt das Sozialamt. Trotz des Handicaps steht sie mit anderen Schicksalsgenossen jetzt vor dem Rathaus. „Ich habe 28 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt, war stellvertretende Marktleiterin bei Penny. Vier Jahre habe ich ehrenamtlich bei der Tafel gearbeitet. Heute bekomme ich die volle Erwerbsminderungsrente. Das sind gerade 460 Euro. Ich empfinde das als Ungerechtigkeit.“

Ein Zehn-Punkte-Papier hat die Facebook-Gruppe ins Internet gestellt, unter anderem fordert sie: Sofortige Einführung eines solidarischen Rentensystems, in das ausnahmslos alle einzahlen. Sie wollen Kindergeld oder Unterhaltszahlungen nicht mehr als Einkommen anrechnen. Sie fordern die Rücknahme der rot-grünen „Agenda 2010“ und die Einführung einer Reichensteuer – das könnten auch Linken-Politiker unterschreiben. Steuergeldverschwendung durch Amtsträger unter Strafe zu stellen wollen allerdings eher AfD-Politiker.

Heinrich Madsen, der im Netz angefeindete Gründer von „Fridays gegen Altersarmut“, schreibt auf Facebook: „Es war von Anfang an klar, daß man irgendwann versuchen wird, unsere Gruppe zu stigmatisieren.“ Doch die Demonstranten wollen nicht aufgeben. Die nächste Mahnwache ist am 15. Februar geplant.

Facebook-Gruppe „Fridays gegen Altersarmut“:  facebook.com