© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Nicht für fast alle Übel der Welt verantwortlich
Wirtschaftsgeschichte: Für Werner Plumpe ist der Kapitalismus letzlich eine andauernde Revolution zugunsten der Massen / Der Konsum steht im Mittelpunkt
Erich Weede

Für Werner Plumpe bedeutet Kapitalismus dezentrale und an Preissignalen orientierte Marktwirtschaft, Privateigentum und Wettbewerb mit kapitalintensiver Produktion. Er sei darauf angelegt, immer mehr und effektiver zu produzieren und kann deshalb nicht ohne Steigerung des Massenkonsums auskommen. Über Ort und Zeit variierende Angebots- und Nachfrageelastizitäten stehen im Mittelpunkt des Buches des Wirtschaftshistorikers von der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Die Entstehung des Kapitalismus in Europa sei Resultat einer Verkettung von vielen Umständen. Dabei diskutiert Plumpe Argumente von Max Weber über Eric Jones bis John Locke. In Plumpes Analysen spielen Anreize eine wichtige Rolle. Bis ins 19. Jahrhundert war der Fernhandel vergleichsweise gering, aber exotische Güter hatten wie später Industriewaren eine wichtige Anreizwirkung, um den Arbeitsfleiß und Erwerbstrieb anzustacheln. In England ergaben sich schon früh die Löhne in der Regel nicht aus obrigkeitlichen Vorgaben, sondern aus Angebot und Nachfrage.

Plumpe lehnt idyllische Vorstellungen der vorkapitalistischen Welt ab: Erst der Kapitalismus habe das Überleben vieler Besitzloser durch Lohnarbeit ermöglicht. In den hundert Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hat sich die Bevölkerung Westeuropas verdoppelt. 1913 stellte es zusammen mit Nordamerika ein Fünftel der Weltbevölkerung. Die erbrachten aber die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Einer Erklärung des ökonomischen Geschehens durch die Institutionen, zu denen das Recht gehört, steht er skeptisch gegenüber.

Plumpe betont, „daß der moderne Kapitalismus in gewisser Hinsicht eine Art Ökonomie für die Unterschichten war, die den Konsumenten in den Mittelpunkt rückte“. Er akzeptiert deshalb auch die Legitimation großer Vermögen durch deren investive und produktive Verwendung. Imperialismustheorien lehnt er sowohl für die Erklärung der Kapitalakkumulation im Westen als auch für den Ersten Weltkrieg ab. In der Politik sieht er keine Vertreterin der Bourgeoisie oder des Großkapitals, sondern eine eingreifende Instanz. Neben Sozialmaßnahmen à la Bismarck gab es auch kriegsbedingte Markteingriffe, aber Unternehmer bedienen lieber stabile Friedensmärkte als vorübergehend hektisch expandierende und dann wieder schnell schrumpfende Rüstungsmärkte.

Wachsende Migration in einer transparenteren Welt

Es ist meist leichter erkennbar, welche Theorien Plumpe ablehnt und welche er akzeptiert. Bei der Behandlung der Zwischenkriegszeit greift Plumpe wichtige Argumente von John Maynard Keynes auf: Danach war der Versailler Frieden ein Fluch für die spätere wirtschaftliche Entwicklung. Krisen seien ein Merkmal kapitalistischen Wirtschaftens und er akzeptiert dessen Defizitfinanzierung. Bemerkenswert ist, daß Keynes’ schlechte Meinung über Politiker schlecht zu einer Theorie paßt, die dem Staat und damit der Politik die Aufgabe der Krisenüberwindung aufbürdet.

Nach 1945 bemühten sich die USA um globale Wirtschafts- und Handelsfreiheit und Freihandel. Westeuropa und Japan konnten sich schnell erholen. Ihre Konsumenten orientierten sich – zum Entsetzen der Kulturkritiker – an Amerika: Autos, Fast food, Hollywood. Die schnelle Überwindung der kriegsbedingten Knappheit und Armut kommentiert Plumpe mit der Bemerkung, „daß sich der Kapitalismus Armut zumindest auf Dauer gar nicht leisten konnte“.

Mit dem schnellen Wachstum Japans kündigte sich zudem eine Verlagerung kapitalistischer Vitalität nach Asien an. Was im Westen als Krise wahrgenommen wurde, war global ein Erfolg: Hunderte von Millionen Menschen wurden zu globalen Produzenten und Konsumenten und der Armut entrissen. Die kapitalistische Weltwirtschaft wurde tripolar: Nordamerika, Europa und Ostasien. Daß der Westen das nicht verhindert hat, hält Plumpe für unvermeidlich und richtig. In einer zunehmend transparenten Welt rechnet Plumpe eher mit anschwellenden Migrationsströmen – es sei denn der Westen verliert an Wohlstand und Anziehungskraft.

Bei der Finanzkrise von 2008 betont Plumpe die Vielfalt der politischen Entscheidungen davor: Deregulierung der Märkte, das Bestreben der Politik auch armen Menschen Zugang zu Kreditmärkten und Immobilien zu gewähren, Bilanzierungsregeln, die statt der Einstandsbewertung Marktpreise verwenden und damit die Bilanzsumme aufblähen können, leichter Zugang für Staaten zu Kreditmärkten, Rettungsschirme für Banken und Staaten. Der Politik ist es allerdings gelungen, die Verantwortung für die Krise dem Kapitalismus oder den Kapitalisten zuzuschreiben.

Im abschließenden Kapitel distanziert sich Plumpe von den Erklärungsansprüchen der nomothetischen oder systematischen Sozialwissenschaften, betont allerdings wiederholt die Effizienz des Kapitalismus und dessen Leistungen gerade für die Unterschichten, läßt stellenweise durchblicken, daß zuviel staatliche Eingriffe in die Wirtschaft den Kapitalismus gefährden könnten. Das Buch ist nicht nur eine Wirtschaftsgeschichte, sondern auch eine Würdigung der Leistungen des Kapitalismus.






Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln, Bologna und Bonn. 1998 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.

Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution. Rowohlt Verlag, Berlin 2019, 800 Seiten, gebunden, 34 Euro