© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Den Paternoster hat sie nie bestiegen
Biographische Annäherungen des DDR-Germanisten Achim Roscher an die Schriftstellerin Anna Seghers
Jörg Bernhard Bilke

Schon immer galt die in Mainz geborene DDR-Schriftstellerin Anna Seghers (1900–1983) als wenig auskunftsfreudig, wenn sie nach autobiographischen Daten befragt wurde. Daran ist auch eine 1965 von ihrer jüngeren Kollegin Christa Wolf konzipierte „Biographie der Anna Seghers“ gescheitert. Die zweibändige Biographie der US-amerikanischen Germanistin Christiane Zehl Romero, geschrieben in Kooperation mit Pierre und Ruth Radvanyi, den Kindern von Anna Seghers, erschien denn auch erst nach ihrem Tod, in den Jahren 2000 und 2003.

Nun wurde in Berlin, im einstigen FDJ-Verlag „Neues Leben“, ein Buch veröffentlicht, das dem Leser eine Fülle autobiographischer Daten liefert. Offensichtlich ist sie in ihren letzten Lebensjahren zugänglicher geworden für solche Anfragen. Außerdem hatte sie in Achim Roscher, dem 1932 geborenen langjährigen Redakteur der DDR-Literaturzeitschrift Neue Deutsche Literatur, den sie mindestens seit 1961 kannte, einen zuverlässigen Freund. Dieses aufschlußreiche Buch, das in drei Teile gegliedert ist, hat nur einen Fehler: Es hätte einige Jahre früher erscheinen müssen.

Im ersten Teil, dem Vorwort mit dem schönen Titel „Das Lächeln der Anna Seghers“, erfährt man, daß die berühmte und bewunderte Autorin gelegentlich auch ein ängstlicher Mensch war. Wenn sie beispielsweise den Schriftstellerverband in der Französischen Straße aufsuchte, dessen Präsidentin sie in den Jahren 1952 bis 1978 war, bevor sie von Hermann Kant abgelöst wurde, stieg sie schnaufend ins Dachgeschoß hinauf, wo die Redaktion der Neuen Deutschen Literatur untergebracht war. Allerdings vermied sie es beharrlich, den Paternoster, den sie „Fuhrwerk“ nannte, zu besteigen, weil sie befürchtete, den Ausstieg zu verpassen und auf der anderen Seite „kopfstehend“ hinunterfahren zu müssen. Und das alles kommentierte sie in unverfälschtem Meenzerisch, was sie bis ins hohe Alter sprach.

Im zweiten Teil sind die 33 Gespräche überliefert, die Anna Seghers zwischen dem 3. April 1961 und dem 17. Januar 1983 mit Achim Roscher geführt hat, und im dritten Teil die miteinander geführte Korrespondenz (23 Briefe zwischen 30. Juli 1964 und 29. Juni 1982). Anna Seghers war, nimmt man die neuen Aspekte auf, die in diesem Buch ausgebreitet werden, durchaus nicht die unkritische Apologetin des „realen Sozialismus“, wie ihre beiden Selbstfindungsromane „Die Entscheidung“ (1959) und „Das Vertrauen“ (1968) den Beobachter glauben machen wollen. 

Sie sah sehr wohl die demokratischen Defizite ihres Staates, die freilich für Opfer politischer Verfolgung klarer erkennbar waren als für die zur „Staatsklassikerin“ verklärte Autorin. So erzählte sie ihrem Vertrauten Achim Roscher auch von dem Zerwürfnis, das sie während des Exils mit dem in Prag geborenen Schriftsteller Franz Carl Weiskopf hatte, half ihm aber 1953 von Prag nach Ost-Berlin überzusiedeln. Ihm, der inzwischen nach New York emigriert war, hatte sie 1940 das Manuskript ihres Romans „Das siebte Kreuz“ geschickt. Auch ihrer jüngeren Kollegin Christa Wolf hat sie geholfen, als sie erfahren hatte, daß der Roman „Nachdenken über Christa T.“ (1968) mit Rezensionsverbot belegt worden war.

Eingesetzt hat sie sich auch für Volker Braun, den 1939 in Dresden geborenen Lyriker und Dramatiker, weil dessen 1975 in der von der Ost-Berliner Akademie der Künste herausgegebenen Literaturzeitschrift Sinn und Form gedruckte „Unvollendete Geschichte“ wegen ihrer staatskritischen Tendenz von höchsten Parteigremien angegriffen wurde. Und für die Lyrikerin Christa Reinig, die 1964 ausreisen durfte, um den „Bremer Literaturpreis“ zu empfangen; ihre aufrührerischen Gedichte paßten nicht in den Kanon sozialistischer Literatur.

Im letzten Lebensjahr rückt Mainz wieder ins Interesse

Nie war sie zufrieden mit dem, was sie geschrieben hatte! Noch Jahre nach der Veröffentlichung quälten sie Ungenauigkeiten in ihren Texten. Einmal, so berichtet Achim Roscher, ging es um die Erzählung „Das Schilfrohr“, die 1965 im Sammelband „Die Kraft der Schwachen“ erschienen war. Sie fragte ihren Gesprächspartner, ob man wirklich unter Wasser durch ein Schilfrohr hätte atmen können, dessen Wachstumsknoten doch die Zufuhr von Luft erschwerten.

Am 2. Juni 1980 erwähnte sie, die in hohem Alter oft von Müdigkeit geplagt war, den jungen Mainzer Journalisten Peter Frey, der ihr ein Manuskript über „Osthofen – Westhofen“ geschickt hatte, dem Schauplatz ihres Romans „Das siebte Kreuz“; sie sorgte dafür, daß es im Novemberheft 1980 der Neuen Deutschen Literatur gedruckt wurde. In ihrem letzten Lebensjahr, als sie schon im Pflegeheim am Müggelsee wohnte, wo sie sich unglücklich fühlte, weil sie dort nicht schreiben konnte, wollte sie sich noch einmal dem Mainzer Revolutionär Georg Forster (1754–1794) zuwenden und bat Achim Roscher, ihr die „Ansichten vom Niederrhein“ von 1790 zu besorgen. Aber geschrieben hat sie dann doch nichts mehr über den Gründer der bürgerlich-demokratischen Mainzer Republik 1792/93.

Achim Roscher: „Mit einer Flügeltür ins Freie fliegen.“ Gespräche mit Anna Seghers. Verlag Neues Leben, Berlin 2019, gebunden, 192 Seiten, 20 Euro