© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Rücktritte waren gestern
Organisierte Verantwortungslosigkeit: Eine abgehobene politische Klasse schützt sich selbst
Kurt Zach

Wer führen will, muß Vorbild sein. Verantwortung übernehmen heißt: mit seiner Person für das eigene Handeln einstehen und bei Mißerfolg, Versagen oder Fehlverhalten sich nicht nur den im Rechtsstaat für alle geltenden Gesetzen unterwerfen, sondern für sein Handeln und seine Überzeugungen nötigenfalls mit der eigenen Karriere bezahlen. Soweit die Theorie.

Das politische Personal unserer Tage kann über solche Ehrbegriffe nur müde lächeln. Spitzenpolitiker treten zurück, weil sie keine Lust mehr haben, sie ein lukrativeres Jobangebot für den Absprung bekommen haben oder weil sie ihre Lebensplanung irgendwie geändert haben.

Manche gehen auch aus Überforderung oder Überlastung, oder weil sie – eine Spezialität der SPD – von den eigenen Leuten zur Aufgabe gedrängt und aus dem Amt gemobbt werden. Aber Rücktritte aus Anstand und Verantwortung sind so selten geworden wie Schnee in der Sahara.

Es ist das Paradoxon der Verantwortungslosigkeit: Je häufiger und krasser Skandale und Fehlleistungen von herausgehobenen Amts- oder Mandatsträgern werden, desto seltener kommt es deswegen zu Rücktritten oder Entlassungen. Der Sesselkleber wird zum Maßstab.

Der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich, als Bundestagsvizepräsident immerhin weich gefallen, mag sich rückblickend wundern, aus welch vergleichsweise geringfügigen Gründen er vor sechs Jahren als Bundeslandwirtschaftsminister gehen mußte: Weil er, noch als Bundesinnenminister, den damaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel vertraulich über die Ermittlungen gegen den sozialdemokratischen Abgeordneten Sebastian Edathy informiert hatte und dafür ausgerechnet von den Genossen selbst wegen „Geheimnisverrats“ hingehängt worden war.

Friedrichs Parteifreund Karl-Theodor zu Guttenberg mußte seine Karriere als CSU-Senkrechtstarter und Verteidigungsminister immerhin noch vorzeitig beenden, weil ihm der Doktortitel plagiatshalber aberkannt worden war. Die CDU-Linkskatholikin Annette Schavan mußte aus demselben Grund als Bundesbildungsministerin gehen; dafür verschaffte die Kanzlerin ihrer Vertrauten regelwidrig einen weichen Auffangposten als Botschafterin beim Heiligen Stuhl.

Schnee von gestern. Plagiatsvorwürfe setzen keinen Bundesminister mehr unter Druck, schon gar nicht solche von der SPD. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, die trotz massiver Mängel an ihrer Doktorarbeit mit einer „Rüge“ davongekommen ist – ein Schelm, wer Gefälligkeit wittert –, klebt ungerührt an ihrem Ministersessel.

Die in Trümmern liegende SPD kann schließlich keinen „Hoffnungsträger“ entbehren. Daß Giffey, mit Plagiatsverdacht im Nacken, nicht auch noch für den Parteivorsitz kandidiert hat, verkaufen die Genossen als edelmütigen Verzicht; den Ministerposten wird sie nur aufgeben, wenn sie als Regierende Bürgermeisterin in Berlin noch weiter nach oben fallen kann.

Sogar wenn das Parlament einen Untersuchungsausschuß einsetzt, um manifeste Verfehlungen eines Bundesministers im Amt aufzuklären, ist das heutzutage kein Rücktrittsgrund mehr. Ursula von der Leyen verfolgt die Ermittlungen in ihrer Berateraffäre gelassen aus dem Brüsseler Wolkenpalast; aus dem Verteidigungsministerium, das sie gleich in zwei Kabinetten an die Wand gefahren hat, wurde sie auf den Sessel der EU-Kommissionspräsidentin hinaufkatapultiert.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wiederum denkt nicht an Rücktritt, obwohl er für das Unglücksprojekt Pkw-Maut trotz ungeklärter Rechtslage voreilig Verträge geschlossen und mehrere hundert Millionen Euro Steuergelder in den Sand gesetzt hat. Wenn er gehen muß, dann weil sein Parteichef Markus Söder Scheuers Unpopularität nutzt, um mit einem Ministertausch Handlungsfähigkeit vorzugaukeln.

Der Inbegriff des Sesselklebers sind zweifellos die Ex-Vorsitzenden von CDU und CSU, Angela Merkel und Horst Seehofer. Letzterer ist mit all seinen markigen Ankündigungen und vorgeblichen Zielen gescheitert; statt Migrationsbegrenzung zu fordern, verteilt er inzwischen Blankoschecks an illegale Seemigranten. Den Zeitpunkt zum Abgang in Selbstachtung hat er schon lange verpaßt.

Und die Kanzlerin verantwortet nicht nur eine rekordverdächtige Liste von Rechtsbrüchen und absurden inhaltlichen Volten, um ihre Macht zu sichern, sondern auch eine beispiellose Serie von Wahlniederlagen. Den Parteivorsitz haben beide jeweils nur notgedrungen abgegeben, um sich dafür um so länger an ihre Kabinettsposten klammern zu können.

In ihrem Verhalten verdichtet sich die Dominanz der Apparate, die in der perfektionierten Parteiendemokratie die eigentlichen Machtzentren darstellen. Nicht Integrität, Sachkompetenz und Rechtstreue entscheiden über den Erfolg eines Politikers und seinen Verbleib im Amt, sondern seine Nützlichkeit und Ergebenheit für den Parteiapparat und diejenigen, die ihn steuern.

Der moralelastische Karrierist weiß das und richtet sich danach: Er tritt nicht zurück, solange er Partei und herrschende Meinung hinter sich weiß; wird er unter diesen Kriterien zur Belastung, ist er rasch abgesetzt und hinausgeworfen. Und dabei geht es zunehmend nach ideologischen Kriterien. Wer nicht gerade unter dem Todsündenverdacht des Rechtsabweichlertums steht, kann sich im etablierten Parteienzirkus so ziemlich alles erlauben. Den Bestsellerautor Thilo Sarrazin möchte die SPD loswerden, Sebastian Edathy ist immer noch Mitglied.

Der verbreitete Unwille zum Rücktritt ist somit nicht nur Ausdruck geschwundener Schamgrenzen und selbstreferentieller Abgehobenheit einer politischen Klasse, sondern auch Begleiterscheinung wachsender Ideologisierung auf dem Weg in die Gesinnungsrepublik. Beides zusammen untergräbt die Fundamente von Rechtsstaat und Demokratie.