© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Wie kann eine Stadt schuldig sein
Dresdner Erinnerungskultur: Von den „blutrünstigen Imperialisten “ bis zur heutigen Selbstbezichtigung hat das Gedenken viele Formen gesehen
Paul Leonhard

Es hat kein Veto der Zeitzeugen gegeben. Sie wurden nicht gefragt. Sie wären auch nicht gehört worden. Und so bleiben sie, wie in all den vergangenen Jahrzehnten, zu Hause. Kurz nach halb zehn werden sie die Fenster öffnen und in die Nacht lauschen. Wenn dann, ab 21.45 Uhr, die Glocken aller Kirchen läuten, wie es seit 1946 Tradition ist, werden sie sich an den Händen halten und jener Familienangehörigen gedenken, die in der Nacht zum 14. Februar 1945 starben.

Am nächsten oder übernächsten Tag werden sie in den Medien von Demonstrationen und Gegendemonstrationen, von Kundgebungen und Sitzblockaden, von Polizeieinsätzen und der Rede des Bundespräsidenten lesen. Sie werden traurig sein und sprachlos, wenn Politiker, die keine der beiden deutschen Diktaturen erleben mußten, sie, die alten Dresdner, beschuldigen, keine Opfer, sondern Täter gewesen zu sein.

Wenn es dann heißt, Dresden sei keine unschuldige Stadt gewesen, werden sie hilflos die Köpfe schütteln: Wie kann eine Stadt schuldig sein? Würde es nach jenen über Achtzigjährigen gehen, gäbe es Mitte Februar keine Kundgebungen in der Stadt, weder von rechts noch von links organisierte. Und die Politiker müßten einfach ihren Mund halten. Die Alten würden es begrüßen, wenn überall in der zerstörten, abgeräumten und völlig neu aufgebauten Stadt an Litfaßsäulen und Plakatwänden großformatige Aufnahmen hingen, die die Pracht des Vorkriegs-Dresdens zeigten und die Ruinenlandschaft, wie sie sich den Überlebenden und den aus dem Krieg Heimkehrenden nach jenen Tagen im Februar 1945 darbot.

Dresdner rangen um Ruinen von Kulturbauten

Träume, die Illusionen sind. Denn der Untergang Dresdens ist schon unmittelbar nach den anglo-amerikanischen Bombenangriffen in der Nacht zum 14. und am 15. Februar 1945 propagandistisch ausgeschlachtet worden. Den Anfang machten noch die Nationalsozialisten. Im Berliner Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wurde jener Begriff von der „unschuldigen Stadt“ geboren.

Die deutschen Meldungen von der völligen Zerstörung des als Kunst- und Kulturstadt international bekannten Dresdens binnen 48 Stunden lösten sofort ein weltweites Echo des Entsetzens aus. Die New York Times berichtete, Dresden sei „pulverized“ worden. Der Toronto Daily Star schrieb, daß noch nie während des Kriegs „eine Stadt so zerstört worden“ sei. Schwedische Zeitungen sahen die Zahl der Toten bei „eher 200.000 als 100.000“.

Noch nachhaltiger in der die nächsten Jahrzehnte bestimmenden Dresden-Reflexion war aber ein großer Beitrag in der auch im Ausland viel gelesenen deutschen NS-Wochenzeitung Das Reich, in der Chefredakteur Rudolf Sparing unter der Überschrift „Der Tod von Dresden: Ein Leuchtzeichen des Widerstands“ die Luftangriffe als „vier Akte eines kühl berechneten Mord- und Vernichtungsplanes“ darstellte.

Die den National- folgenden Einheitssozialisten griffen den Begriff der „unschuldigen Stadt“ auf. Fortan galt für mehr als vier Jahrzehnte die These, daß das „faschistische“ Deutschland zwar den Krieg begonnen habe, aber die „bestialische Ermordung eines großen Teils“ der Dresdner Bevölkerung „die Visitenkarten der profithungrigen, blutrünstigen anglo-amerikanischen Imperialisten“ gewesen sei, wie das SED-Zentralorgan Neues Deutschland anläßlich des fünften Jahrestages der Zerstörung der Stadt schrieb.

Der 13. Februar wurde fortan von den neuen Machthabern genutzt, um gegen die Westalliierten und die westdeutschen „Kriegstreiber“ gerichtete Großdemonstrationen zu organisieren, bei denen die Teilnahme der Bevölkerung Pflicht war. „Friedensappelle“ wurden von Dresden ausgesandt, die Bestrafung der Kriegsverbrecher gefordert und die Wiederaufrüstung Westdeutschlands gegeißelt. Nur öffentlich trauern durften die Dresdner weder um ihre Toten noch um die verschwundene Stadt. Allein die Kirchen boten Räume zum gemeinsamen Gedenken an.

Daß die Vernichtung Dresdens ein Kriegsverbrechen war, versicherte auch das DDR-Regime den Überlebenden. Andererseits war den Kommunisten nicht geheuer, mit welchem Eifer die Dresdner begannen, unmittelbar nach Kriegsende die Ruinen der wichtigsten Kulturbauten wie Zwinger, Schloß, Johanneum, Semperoper zu sichern. Zukunft hieß für sie Wiederaufbau des alten Dresdens unter widrigsten Umständen. Davon zeugen das zähe Ringen um einzelne Ruinen, das – wie um das letzte Barockhaus auf der Großen Meißner Straße – bis zum Ende der SED-Diktatur anhielt, und später, nach der Wiedervereinigung, der Wiederaufbau der barocken Frauenkirche und des gesamten Neumarktes nach (beinahe) historischem Vorbild.

Es war der bisher letzte siegreiche Kraftakt des konservativen Bürgertums. Ähnliche Baukonzepte für den Altmarkt oder gar die südliche Umgebung des barocken Zwingers durchzusetzen, scheiterten. Verloren haben die Dresdner auch die Deutungshoheit um den 13. Februar. Andererseits hatte die aus kirchlichen Friedensgruppen entstehende Dresdner Bürgerbewegung bereits den Jahrestag ihrerseits politisiert.

Um Zeichen gegen die ab Anfang der 1980er Jahre einsetzende Militarisierung in der DDR zu setzen, schritten Bürger am 13. Februar 1982 nach einer Friedensversammlung in der Kreuzkirche erstmals auf die Straße, um an der Ruine der Frauenkirche Kerzen aufzustellen. Das sollte bis zum Wiederaufbau des Gotteshauses Tradition werden. Gespenstisch wurde es 1985, als die SED gegen die kleinen Lichter der Widerständler die FDJ, die „Kampfreserve der Partei“, mit brennenden Fackeln zu einer Kundgebung vor der Kirchenruine aufmarschieren ließ. Es war der 40. Jahrestag der Zerstörung, erstmals nach 15 Jahren gab es wieder staatliches Gedenken.

Eine ganz andere Jugendorganisation indessen griff nach dem Sieg der friedlichen Revolution das NS- und SED-Schlagwort des „Bombenterrors“ wieder auf: die Junge Landsmannschaft Ostpreußen (JLO). Diese verteilte bereits im Februar 1991 entsprechende Flugblätter in der Innenstadt. Neun Jahre später organisierten erst die JLO, später die NPD Trauermärsche, die ihren Höhepunkt am 13. Februar 2005 mit rund 6.500 Teilnehmern fanden.

Das wiederum veranlaßte Antifa-Gruppen, diese ins Visier zu nehmen und Opfer wie Überlebende zu schmähen („Deutsche Täter sind keine Opfer“) und selbst zu mobilisieren. Am 13. Februar 2010 wurde der genehmigte Trauermarsch der 6.500 Rechtsextremisten von 5.000 gewaltbereiten Linksextremisten blockiert. Weite Teile der Innenstadt waren von der Polizei für jeglichen Verkehr gesperrt und menschenleer.

Rot-rot-grün bestimmte Deutung dominiert

FDP-Oberbürgermeister Ingolf Roßberg hatte bereits 2002 Bürger und Vereine zu einem „koordinierten Vorgehen“ gegen die „rechtsextremistischen Veranstaltungen“ aufgerufen, was weitgehend ungehört verhallte. SPD und NPD forderten beharrlich einen „Wandel in der Dresdner Erinnerungskultur“, wobei die einen den Schwerpunkt auf die „deutsche Kriegsschuld“, die anderen auf das „Gedenken an die Toten“ und das „alliierte Kriegsverbrechen“ legten. Schließlich glaubte Roßberg das Problem erkannt zu haben: Es galt, den „Mythos“ der unschuldigen Stadt zu widerlegen, die Totenzahlen wissenschaftlich zu hinterfragen und die Tieffliegerangriffe ins Reich der Legenden zu verweisen. Er berief 2004 eine Historikerkommission, die alle gewünschten Ergebnisse lieferte.

Detailliert listete diese die in Dresden beheimateten Rüstungsbetriebe, militärischen und zivilen Verwaltungseinrichtungen auf. Der Kampfmittelräumdienst wurde eingesetzt, um Hunderte Augenzeugenberichte von Tieffliegerangriffen zu widerlegen: Er fand keine Flieger-MG-Geschosse. Die „wahre Zahl“ der Toten wurde im Abschlußbericht mit mindestens 18.000 und höchstens 25.000 angegeben. Die Zahlen mußten aber korrigiert werden, als in den Archiven Listen auftauchten, die 20.100 Tote namentlich und 2.600 unbekannte Tote als bestattet nachwiesen.

Als ob es den Dresdnern je um Zahlen gegangen wäre.

„Wie viele starben? Wer kennt die Zahl? An deinen Wunden sieht man die Qual der Namenlosen, die hier verbrannt im Höllenfeuer aus Menschenhand“, lautet die Inschrift auf dem Heidefriedhof in Dresden-Trachau, die dem Gedenken der Opfer des Luftangriffs gewidmet ist.

Daß es sich bei der Bombardierung Dresdens um einen Terrorangriff und damit um ein Kriegsverbrechen gehandelt hat, ohne jegliche Bedeutung für den Kriegsverlauf, dem – neben den Einwohnern – einzigartige Kulturgüter zum Opfer fielen, ist außerhalb Deutschlands weitgehend unbestritten. Schließlich gab es einen klaren Auftrag des britischen Luftmarschalls Arthur T. Harris: Die Bomberpiloten sollten in mehreren Angriffswellen die Stadt unbenutzbar machen und den Russen, wenn sie einmarschierten, zeigen, was das Bomberkommando anrichten kann.

Das gelang in vollendetem Zynismus. Nach vier Angriffswellen zwischen dem 13. und 15. Februar waren rund 15 Quadratkilometer Innenstadt nahezu vollständig zerstört, die Semperoper, der Zwinger, das Residenzschloß, die Sophien- und Frauenkirche, außerdem 25.000 Häuser und 90.000 Wohnungen.

Der Mythos der unschuldigen Stadt blieb. Er wurde durch neu zugänglich gewordene Dokumente sogar gestärkt. So heißt es in einem Telegrammentwurf Winston Churchills vom 28. März 1945: „Der Moment scheint mir gekommen, wo die Frage der Bombardierung deutscher Städte einfach zum Zwecke der Erhöhung des Terrors, auch wenn wir andere Vorwände nennen, überprüft werden sollte.“ Die Luftangriffe sollten sich „mehr auf militärische Ziele konzentrieren wie Öllager und Kommunikationszentren hinter der unmittelbaren Kampfzone, statt auf reine Akte des Terrors und der mutwilligen Zerstörung“.

Im rot-rot-grün beherrschten Dresdner Rathaus wird derartiges nicht zur Kenntnis genommen. Und so dreht sich das offizielle Gedenken auch am 75. Jahrestag des Untergangs nicht um die Opfer, sondern um deutsche Kriegsschuld. „In seinem sechsten Jahr hatte damit der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg, dem bereits Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, endgültig auch Dresden erreicht“, heißt es auf der offiziellen Netzseite der Stadt Dresden zum diesjährigen Gedenken.

Für FDP-Oberbürgermeister Dirk Hilbert und die die öffentliche Meinung der Stadt nach außen vertretende Elite, meist aus dem Westen Zugezogene, sind die Dresdner noch immer zu sehr auf die Erinnerung des eigenen Leidens fokussiert. Deswegen bemühen sich die Politiker auch 2020, den Überlebenden des Bombardements und ihren Nachgeborenen nachzuweisen, daß die Vernichtung des historischen Zentrums gerechtfertigt war. 

Ein eigens gegründetes linkes „Aktionsbündnis 13. Februar 1945“ soll in diesem Jahr „einen Aufmarsch von Nazis“ verhindern, „auch mit Mitteln des zivilen Ungehorsams“. Dabei ist „Nazi“ jeder, der nicht die verquere, empathielose Sicht der Organisatoren teilt. Dafür wird deutschlandweit mobilisiert. Die Polizei stellt sich speziell für den 15. Februar, ein Samstag, auf einen heißen Tag ein.