© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Grenzöffnung in der Spätantike
Aus der Geschichte lernen
Ludwig Witzani

Daß Staaten ihre Grenzen freiwillig für unkontrollierte Massenzuwanderung öffnen, dürfte in der Weltgeschichte eher selten sein. Dieses Verhalten verlangt nach Analyse und Erklärung jenseits der Motivlage der Grenzöffner und ihrer Claqueure. Handelt es sich tatsächlich um einen gigantischen Akt staatlicher Mildtätigkeit, der zugleich demographische Probleme entschärfte – oder um einen politischen Suizidversuch der Eliten am eigenen Volk? Über diese und andere Deutungen mag man trefflich streiten, lohnender ist die Suche nach geschichtlichen Vergleichsfällen, aus denen sich bestimmte Lehren für die Gegenwart ziehen lassen.

Auch in der Spätantike kam es zu einer folgenreichen Grenzöffnung, deren Auswirkungen weit über die ursprünglichen Planungen hinausgingen. Selbstverständlich sind die konkreten geschichtlichen Kontexte des spätantiken Szenarios so weit von der Gegenwart entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Die Strukturähnlichkeiten im Hinblick auf das Elitenverhalten sind dennoch verblüffend.

Der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus, ein Robin Alexander der frühen Jahre, beschreibt im 31. Buch seiner „Rea Gestae“, wie sich im Jahre 376 n. Chr. an den Grenzen des Römischen Reiches ein Katastrophenszenarium aufbaute. Das Reitervolk der Hunnen war aus den Tiefen Asiens in Osteuropa aufgetaucht und über die germanischen Völker hergefallen. Mit voller Wucht traf es die Goten, die von den Hunnen geschlagen wurden und in ihrer Not an die schwer bewachte Donaugrenze des Römischen Reiches flüchteten. Von hier aus richteten sie ein flehentliches Schreiben an den römischen Kaiser Valens (364–378) mit der Bitte, ihnen den Grenzübertritt in das Reich zu gestatten. Sie versprachen, innerhalb des Römischen Reiches ein friedliches und gesetzestreues Leben zu führen und jederzeit zu Militärdiensten im Heer des Kaisers bereitzustehen.

Ob der Kaiser einem militärischen Konflikt aus dem Wege gehen wollte oder ob ihn die verheißene „Bereicherung“ seiner Wehrfähigkeit durch neue germanische Truppen reizte – jedenfalls mißachtete Kaiser Valens die Warnungen seiner Ratgeber und gab der Bitte statt. Kaum war die Grenze geöffnet, geschah jedoch, wovor jeder Befehlshaber vor Ort gewarnt hatte: Die Germa-nen überschritten in einer weit größeren Zahl als vereinbart die Grenzen nach Thrakien, wo sie sich keinesfalls gesetzes­treu verhielten, sondern bald mordend und plündernd durch das Land zogen.

Was die Gründe für diesen Vertragsbruch waren, bleibt bei Ammianus Marcellinus im dunkeln. Sei es, daß die Germanen ohnehin nicht daran dachten, sich an die Abmachungen zu halten, sei es, daß sie sich durch die römische Verwaltung benachteiligt fühlten, auf jeden Fall zwang das Verhalten der Germanen den Kaiser zum Eingreifen. Als Kaiser Valens sich den marodierenden Goten im Jahre 378 bei Adrianopel mit seinen Truppen entgegenstellte, erlitt er allerdings eine katastrophale Niederlage. Er selbst fiel in der Schlacht, die siegreichen Goten waren plötzlich die Herren des nördlichen Balkans.

Was es aus der Verfallsgeschichte der Spätantike zu lernen gibt, ist das typische Reaktionsmuster nicht mehr wehrwilliger politischer Eliten: erstens im Hinblick auf die Nichtverteidigung einer Grenze, zweitens der Kaschierung der eigenen Hilflosigkeit.

In dieser Situation wußte sich Valens’ Nachfolger Theodosius I. (379–394) nicht anders zu behelfen, als mit den Goten im Jahre 382 einen Vertrag (foe­dus) abzuschließen, der die Invasoren offiziell zu Bündnispartnern erklärte. Die geschichtliche Bedeutung dieses Gotenvertrages ist kaum zu überschätzen, denn mit ihm entstand erstmals innerhalb des Reichsverbandes ein rechtlich anerkanntes Gebilde, das der Souveränität des Kaisers entzogen war. Indem man den Goten den Titel von „Bündnispartnern“ verlieh, beendete man zwar keinesfalls die Plünderungen, versah den faktischen Invasionsakt jedoch mit einem juristischen Mäntelchen, das die Rechtsordnung des Römischen Reiches wenigstens pro forma intakt hielt.

Mit Recht hat man die Grenzöffnung durch Valens und den Gotenkontrakt des Theodosius als die beiden ersten Sarg­nägel des Imperiums bezeichnet. Denn die Auflösung des weströmischen Reiches vollzog sich von nun an folgerichtig nach dem Drehbuch dieser Rechtsfiktion: Germanische Völker, die die Reichsgrenze überschritten und raumgreifend Gallien, Italien oder Iberien durchzogen, wurden von den Kaisern nolens volens zu „Bündnispartnern“ erklärt, womit einige Generationen lang die virtuelle Weiterexistenz des weströmischen Reiches erkauft werden konnte.

Natürlich waren den hellsichtigen Beobachtern und Zeitgenossen die verhängnisvollen Konsequenzen des Gotenvertrages klar. Kaiser Theodosius versuchte deswegen, seine Kapitulation öffentlichkeitswirksam zu verbrämen und bediente sich dazu willfähriger Propagandisten. Einer der einflußreichsten öffentlichen Panegyriker, die sich in den Dienst des Kaisers stellten, war der Rhetor Themistios, der Kaiser Theodosius in seiner 16. Rede als „philanthropos basileus“ feierte, das heißt als einen Herrscher, der sich bei seinen Entscheidungen nicht nur vom Wohl seiner Untertanen, sondern auch von dem Wohl der Menschheit leiten ließ.

„Wäre es denn besser“, fragte Themistios in seiner Lobrede, „in Thrakien Leichen anzuhäufen, als Bauern anzusiedeln? Sollen dort die Gräber die Zahl der lebenden Menschen übersteigen? Will man lieber über Wildnis als bebautes Land reisen? Und die Erschlagenen lieber zählen als die pflügenden Bauern?“ Die Wirklichkeit stellte sich natürlich ganz anders dar. Von den Invasoren wurde kein Land bebaut, sondern „pflügende Bauern“ aus der alteingesessenen Bevölkerung mußten die Germanen ernähren.

Was kann man aus der spätantiken Grenzöffnung für das Verständnis der muslimischen Massenmigration nach Europa lernen? Zunächst einmal nichts, denn auf der konkreten Ebene sind die Völkerwanderungen des 4. und 5. Jahrhunderts mit den aktuellen Zuwanderungsbewegungen in vielfältiger Hinsicht unvergleichbar. Schon gar nicht sollen Zuwanderer mit mordbrennenden Germanenhorden verglichen werden. Ein entscheidender Unterschied besteht darin, daß die Germanen nach dem Grenzübertritt ihre Autokephalie (Selbstregierung) behielten, während sich moderne Zuwanderer individuell über das Asylrecht in die Zuständigkeit einer alimentierenden Sozialbürokratie begeben.

Was es aus der Verfallsgeschichte der Spätantike aber auf jeden Fall zu lernen gibt, ist das typische Reaktionsmuster nicht mehr wehrwilliger politischer Eliten – erstens im Hinblick auf die Öffnung einer Grenze, zu deren Verteidigung man entweder nicht mehr bereit oder fähig ist, zweitens die Kaschierung der eigenen Hilflosigkeit durch Rechtskonstruktionen der windigsten Art und drittens ihre moralische Überhöhung durch besoldete Propagandisten unter Rückgriff auf Menschheitspoesie.

Auch die Grenzöffnung des Jahres 2015 verlief nach diesem Muster. Gegen den entschiedenen Rat ihrer Fachbeamten öffnete die Kanzlerin in einem einsamen Entschluß die deutsche Grenze für die zunächst nur kleine Zahl der in Ungarn aufgehaltenen Migranten. Daß danach ein hunderttausendfacher Grenzübertritt ins Rollen kam, der alle Planungen (insofern es sie überhaupt gab) über den Haufen warf, dürfte im nachhinein keinen Kundigen verwundern.

Ob die Subsidien, die die Römer an die „Bündnispartner“ zahlen mußten, um sie wenigstens zeitweise stillzustellen, mit den Sozialmilliarden an die Zuwanderer vergleichbar sind, mag jeder selbst entscheiden. Auf jeden Fall aber sind die propagandistischen Reaktionsformen ähnlich. Seitdem die seit 2015/16 anhaltende Massenmigration innerhalb Deutschlands zu erheblichen Friktionen führte (Massenausschreitungen auf der Kölner Domplatte, extremer Anstieg der Roheitsdelikte, islamistisch motivierte Terrorakte), mußten allerlei Theorie- und Rechtskonstruktionen herhalten, um den eingetretenen Kontrollverlust zu kaschieren. Die Rolle des Themistios übernahmen nicht nur Journalisten, sondern auch Wissenschaftler wie Daniel Thym, der in seinen regierungskonformen Beiträgen die Grenz­öffnung als völlig rechtskonform darstellte. Ein Schelm, wem hier auch noch der sogenannte „Migrationspakt“ von Marrakesch und die dazu intonierten Lobgesänge der Presse einfallen.

Die Entblößung der Landesgrenzen und die Gewährung jeder Form von Extraterritorialität sind die Königswege in den staatlichen Untergang. Hundert Jahre nach der Grenzöffnung Kaiser Valens‘ bestand der Westen des Römischen Reiches nur noch aus Germanenstaaten.

Wem diese Parallelen zu weit hergeholt erscheinen, der möge sich auf einer etwas konkreteren Ebene an die Migrationsvorschläge maßgeblicher Mainstreamjournalisten aus der Hochzeit der Zuwanderung vor gut fünf Jahren erinnern. Heribert Prantl, früherer Vize-Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, präferierte in seiner Schrift „Im Namen der Menschlichkeit“ die massenhafte Ansiedlung afrikanischer Bauern in Mecklenburg, wo sie sich „mit den Erfahrungen ihrer uralten Subsistenzwirtschaft, also der Selbstversorgung, eine bescheidene Existenz aufbauen“ könnten. Themistios’ pflügende germanische Bauern lassen grüßen.

Noch weiter gingen Ulrike Guérot und Robert Menasse, die dafür plädierten, den Zuwanderern die Gründung eigener Städte innerhalb Deutschlands zu erlauben – etwa ein Neu-Damaskus in der Nachbarschaft von Dortmund oder ein Neu-Aleppo im Voralpengebiet. „Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen“, schrieben Guérot und Menasse in Le Monde diplomatique (11. Februar 2016). „Sie bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter.“

Aber wer stellt die Polizei in diesen Städten? Was ist mit politischen Konflikten zwischen einzelnen Zuwande-rergruppen wie etwa zwischen Türken und Kurden, Christen und Moslems? Wie verhält es sich mit Zwangsverheiratungen und Schariajustiz? Wer kontrolliert die Lehrpläne in den Schulen und die kommunale Leitungsebene? Und vor allen Dingen: Wer finanziert den Bau und den Unterhalt dieser Städte, da das Steueraufkommen ganz bestimmt nicht ausreichen wird?

Diese Fragen stellen heißt den ganzen Unsinn dieser Vorschläge bloßzustellen. Interessant sind sie nur als Kuriosum oder als zeitgemäße Variante eines „Gotenkontrakts“, demzufolge auf die Kontrolle des eigenen Territoriums und die Durchsetzung der eigenen Wertvorstellungen entweder aus Überzeugung oder aus Feigheit verzichtet wird. Ihre Drapierung mit einem „Weltgastrecht“ als Menschenrecht, die Guérot und Menasse dem guten Immanuel Kant in die Schuhe schieben, läßt die peinliche Panegyrik des Themistios noch weit hinter sich.

Die Selbstentblößung der Landesgrenzen und die Gewährung jeder Form von Extraterritorialität sind die Königswege in den staatlichen Untergang. Das hätte auch Kaiser Valens bedenken sollen, denn ziemlich genau einhundert Jahre nach seiner Grenzöffnung bestand der Westen des ehemaligen römischen Reiches nur noch aus Germanenstaaten.






Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Reiseschriftsteller und Autor einer bislang zehnbändigen Weltreise-Reihe mit Einzelbänden über Tibet, Indien, Argentinien/Chile, Osteu­ropa, Indochina, Iran, Alaska, Süd- und Nordafrika sowie Indonesien. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die politischen Kategorien Gegner und Feind („Die neue Verfeindung“, JF 34/19).

Foto: Schlacht bei Adrianopel 378: Als Kaiser Valens sich den marodierenden Goten im Jahre 378 bei Adrianopel entgegenstellte, erlitt Rom eine katastrophale Niederlage. Er selbst fiel, und die siegreichen Goten waren plötzlich die Herren des nördlichen Balkans.