© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Der Goldstandard steht zur Disposition
Dubioser Autor schlägt um sich: Eine Kontroverse um die „Kriegsschuld 1914“ beschädigt den Ruf der „Historischen Zeitschrift“
Oliver Busch

Vor gut drei Jahren veröffentlichte Rainer F. Schmidt in der Historischen Zeitschrift einen Aufsatz mit dem Titel „Revanche pour Sedan“ (HZ 303-2016). Mit dieser Studie über die „militärische und bündnispolitische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs“ knüpft der Würzburger Zeithistoriker an jüngere deutsche und angelsächsische Beiträge zur Kriegsursachenforschung an, die Fritz Fischers seit den 1960ern zur „herrschenden Meinung“ erstarrte These von der deutschen Haupt-, wenn nicht Alleinschuld an der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts in Frage stellen (JF 3/17). Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ verschuf dieser Revision eines volkspädagogischen Dogmas auch internationale Resonanz (JF 42-2013). Während Clark die Aufmerksamkeit wieder auf die Verantwortung Rußlands und Serbiens lenkt, stuft Schmidt Frankreichs Anteil an der Auslösung des Weltkriegs hoch, wobei als ein „Hauptschuldiger“ der französische Ministerpräsident und Präsident Raymond Poincaré ins Zentrum seiner Analyse rückt.

Gegen Schmidts nur in Fachkreisen rezipierte Deutung erhob sich erstaunlicherweise kein Widerspruch, obwohl dort immer noch Fischers Phantasma vom deutschen „Griff nach der Weltmacht“ en vogue ist. Erst kurz vor Weihnachten 2019 trat Schmidt ein bisher nicht allein auf diesem Forschungsfeld völlig Unbekannter entgegen. Wiederum in der HZ (3/2019) ging ein gewisser Robert C. Moore hart ins Gericht mit „Schmidts Kernthesen“. Die Vorwürfe gegen Poincaré und Frankreich hätten demnach „keinen wissenschaftlichen Ursprung, fußen nicht auf Primärquellen“, sondern entstammten „dem politischen Rechtsfertigungsarsenal einer politischen Kampagne“, die das Auswärtige Amt seit 1919 als Reaktion auf die Kriegsschuldzuweisung des Versailler Vertrags entfesselte und heute das Reservoir sei, aus dem sich der rationale Rekonstruktion der Ereignisse und Quellenkritik durch „Vermutung, Spekulation, Beliebigkeit, Behauptungen, Unterstellungen, Zuschreibungen ohne empirische Substanz“ ersetzende Schmidt bediene.

Was der seinen polemischen Furor nur mühsam bändigende Moore vorträgt, ist partiell zwar durchaus diskutabel, kommt aber über die Wiederholung der kanonischen Positionen Fischers und der Heerschar seiner Nachtreter nicht hinaus. So wird abermals darauf gepocht, daß das Kaiserreich keinesfalls aus der Defensive agierte, im imperialistischen Machtspiel nicht von England, Frankreich, Rußland „eingekreist“ und schon gar nicht zu seiner in der „Julikrise“ 1914 mündenden „hochriskanten Konfrontationspolitik“ von Poincaré und den Petersburger Falken provoziert worden sei. 

Gerade für seine zentrale These vom „radikalen Kurswechsel“, den Poincaré vollzog, um Rußland zu einer aggressiven Außenpolitik zu ermuntern und „auf dem Balkan einen geopolitischen Zündmechanismus“ (Schmidt) in Gang zu setzen, der 1914 tatsächlich zur Explosion führte, stützte sich Schmidt nur auf kaum stichhaltige Belege, die Korrespondenz Alexander Iswolskis, des russischen Botschafters in Paris. Hier, dem einzigen Punkt seiner Kritik, weist Moore wirklich auf ein schwaches Glied in Schmidts Beweiskette hin. Um sogleich mit grotesker Unlogik fortzufahren: von Frankreich sei vor 1914 keine Kriegsgefahr ausgegangen, was ja die Lageberichte des deutschen Botschafters und des Militärattachés bestätigten. 

Darin werde die Reichsführung über die Bedeutungslosigkeit des Revanche-gedankens orientiert – nicht etwa für Poincaré, für Politik und Armee, sondern für „die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung“, die auf einen „friedlichen Ausgleich mit Deutschland“ setze. Als ob „die Bevölkerung“ und nicht Poincaré die Außenpolitik der Advokatenrepublik dirigierte! Ebenso ins Absurde gleitet Moore ab, wenn er den russischen Außenminister Sergej Sasonow geradezu zum Friedensengel stilisiert, der während der Julikrise bis kurz vor zwölf, der deutschen Mobilmachung am 1. August 1914, um „Alternativen zum Krieg“ gerungen habe.

Ungeachtet solcher und vieler anderer Mängel dieses späten Versuchs, Fritz Fischer gegen „Revisionisten“ wie Schmidt und Clark zu verteidigen, war es kein handwerkliches Versagen, das Moores Text öffentlich ins Gerede brachte. Sven Felix Kellerhoff, für Geschichte zuständiger Redakteur der Welt, stieß sich vielmehr an den sonderbaren Umständen seiner Veröffentlichung. So sei ein Autor Moore niemandem im Fach bekannt, gleichwohl habe ihm die Redaktion der ehrwürdigen, seit 160 Jahren erscheinenden HZ, die mit Christopher Clarks Lob wirbt, sie repräsentiere den „gold standard of periodical publishing in the field“, außergewöhnlich viel Platz, 53 Seiten, für seine Attacke gegen Schmidt eingeräumt. Zudem hätte einer der beiden externen Gutachter von der Publikation abgeraten. Und noch dubioser wirkt die großzügige Praxis der den „Goldstandard“ hütenden HZ-Redaktion, wenn Kellerhoffs Recherchen nicht einmal eine Privatanschrift, geschweige denn eine Institutsadresse Moores zutage förderten, sondern nur ein kalifornisches Postfach (Welt am Sonntag vom 12. Januar).

Moore begründet Aufsatz mit Trump und Gauland

Auf Kellerhoffs Artikel hat Moore inzwischen mit einer 16seitigen, an den Welt-Herausgeber Stefan Aust und den Chefredakteur Ulf Poschardt gerichteten, rechtliche Schritte androhenden Suada reagiert. Das Geheimnis um seine Person lüftet er darin nicht. Aber er verrät sein verschwörungstheoretisch maximal aufgeladenes geschichtspolitisches Motiv, das ihn zur Feder greifen ließ. Weltweit, von Donald Trump bis Alexander Gauland, sei eine „populistische Internationale“ auf dem Vormarsch, die sich weigere, „den multilateralen Weg “ und, im Rahmen der EU, die „europäische Integration als irreversibel zu akzeptieren“. Historikern wie Schmidt und Clark sei dabei die Aufgabe zugefallen, die vorbildliche „multilaterale Gleichgewichtspolitik“ der Entente-Mächte – die tatsächlich den Frieden auf Deutschlands Verzicht auf Selbstbehauptung gründen wollte – zu diskreditieren, um die Kräfte in Berlin zu stärken, die auf den Austritt aus der EU drängten und, in Wiederaufnahme wilhelminischer Politik, die „Restitution der vollen Souveränität Deutschlands“ anpeilten.