© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

„Ein Opfer Merkels“
Nicht nur AKK ist an ihr gescheitert, die Union selbst ist unter der Kanzlerin zum politischen Notfall geworden, dem die Spaltung droht. Allein die Wahl eines neuen Parteichefs wird daran nichts ändern, warnt der Politologe und CDU/CSU-Experte Heinrich Oberreuter
Moritz Schwarz

Herr Professor Oberreuter, wer ist schuld am Scheitern Kramp-Karrenbauers?

Heinrich Oberreuter: Dafür gibt es natürlich nicht nur einen Grund, doch sehe ich sie vor allem als ein Opfer Angela Merkels. Denn die hatte schließlich die Parole ausgegeben, Kanzlerschaft und Parteivorsitz gehörten in eine Hand, dies dann aber nicht umgesetzt. 

Warum nicht?

Oberreuter: Gute Frage, denn ich vermute, daß es zu Beginn von Kramp-Karrenbauers Amtszeit Absprachen diesbezüglich gegeben hat. Da sonst der frühzeitigen Übergabe des Parteivorsitzes im Dezember 2018, also fast drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl, keine politische Logik innegewohnt hätte. 

Um so mehr fragt sich dann, warum diese nicht eingehalten worden sein könnten?  

Oberreuter: Da kann man nur spekulieren. Ich vermute, daß dahinter ein in der Politik nicht unübliches Phänomen steckt, nämlich Routine: Die Politik ist ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert und jede davon verführt dazu, ihr mit bewährten Mustern und dem bewährten Personal zu begegnen, statt sie neuen, unerfahrenen Kräften zu überlassen. So wird schließlich der richtige Zeitpunkt zur Übergabe der De-facto-Führung verpaßt. Natürlich ist das menschlich, anderseits aber ist es unprofessionell, sich als Politiker nicht dieses Problems bewußt zu sein und entsprechend gegenzusteuern. Was man von einer erfahrenen Politikerin wie der Kanzlerin hätte erwarten können. 

Kramp-Karrenbauer trifft keine Schuld?

Oberreuter: Die Situation in Thüringen hätte jeden überfordert, und ich glaube nicht, daß man ihr da viel anlasten kann. Denn obgleich das ihre Kritiker getan haben, gingen die meisten der Vorwürfe gegen die CDU-Chefin an unserer politischen Ordnung vorbei. 

Was meinen Sie?

Oberreuter: Ich meine etwa das Prinzip der innerparteilichen Demokratie: Die CDU-Vorsitzende kann gar nicht, wie von vielen ihrer Kritiker quasi gefordert, gleichsam auf Panzerketten in eine Landespartei einfahren, um dort in ihrem Sinne für Ordnung zu sorgen. Oder denken Sie an das Prinzip des freien Mandats der Thüringer Landtagsabgeordneten, über das sich die Parteiführung ebenfalls nicht einfach hinwegsetzen kann. Auch wenn etwa die Linke im Land offenbar in der Vorstellung lebt, sie könne sogar beanspruchen, das freie Mandat der CDU-Parlamentarier einzuschränken, indem sie fordert, diese müßten nun Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten wählen. 

Jene, die all das fordern, beanspruchen allerdings, gerade dies im Namen der Demokratie zu tun. Wie paßt das zusammen?

Oberreuter: Gar nicht, denn offenbar haben sie die Struktur unseres politischen Systems nicht verstanden, ebensowenig wie bestimmte Prinzipien, die unsere Demokratie ausmachen. Doch leider erleben wir in puncto Demokratie ein immer weiter um sich greifendes Mißverständnis: nämlich das, die eigene Moral für mit der demokratischen Moral identisch und zudem für allen anderen Wertvorstellungen überlegen zu halten. Woraus ein Anspruch der Alleingültigkeit der eigenen Moral und auf deren umfassende Durchsetzung abgeleitet wird. In Wahrheit aber beruht Demokratie auf dem Prinzip des Pluralismus und der Toleranz – allerdings, und das an die Adresse der AfD, natürlich in den Grenzen der Verfassung und der Verfassungskultur. 

Die Kanzlerin ist Kramp-Karrenbauer mit ihrer „Unverzeihlicher Fehler“-Rüge bezüglich der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten in den Rücken gefallen. Welchen Sinn ergibt das, gilt AKK doch als ihre Wunschnachfolgerin?

Oberreuter: Keinen, aber die Frage stellte sich auch schon an anderer Stelle. So hatte Merkel sich zum Beispiel des Parteivorsitzes zu einem Zeitpunkt entledigt, als dieser – nach zwei weiteren verlorenen Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober 2018 – immer mehr zur Bürde geworden war. Nur, wie ihre unerfahrene Wunschnachfolgerin jene Bürde schultern sollte, die sogar ihr selbst zu schwer war, darüber hat sie sich offenbar keine Gedanken gemacht. 

Das klingt erstaunlich dilettantisch. Ist das plausibel? Schließlich wird Frau Merkel von vielen auch ein nicht zu unterschätzender Machtinstinkt attestiert. 

Oberreuter: Es ist nicht selten, daß selbst solche Menschen sich nach einiger Zeit sehr an ihr Amt gewöhnen. Es erscheint ihnen ganz selbstverständlich und sie vergessen die Notwendigkeit ständiger Bewährung. Was ist schon ihre jeweilige Partei im Verhältnis zu Trump und Putin? Bestärkt werden sie in diesem Gefühl durch die verbreitete Bereitschaft in ihrer Umgebung, ihnen unwidersprochen zu folgen. Was wiederum daran liegt, daß unter ihrer Führung bisher ja letztlich alles doch noch gutgegangen zu sein scheint. Und so war es ja auch im Fall Merkel, unter der in der Partei nie viel diskutiert worden ist. Weder die in der Gesellschaft hochumstrittene These von der „Alternativlosigkeit“ gewisser Entscheidungen, noch die innerparteiliche Entwicklung an sich – trotz der enormen Veränderungen, die die Union in ihrer Ära erlebt hat. 

Also ist der angekündigte Abgang Kramp-Karrenbauers nicht einfach nur ein Rücktritt, sondern ein Fanal?

Oberreuter: Auf jeden Fall ist er nicht einfach nur ein Rücktritt, sondern verweist auf all die innerparteilichen Mängel, die sich in der Zeit Merkels angehäuft haben und damit darauf, daß die CDU mit sich überhaupt nicht mehr im reinen ist! 

Der Richtungskampf in der CDU werde nun „voll losgehen“, meint die Politologin Andrea Römmele in der Tagesschau. 

Oberreuter: Zumindest wird es sich als Irrtum erweisen, sollte man in der CDU wirklich glauben, die erneute Wahl eines Parteichefs genügt, die Spannungen in der Partei zu lösen – nachdem diese gerade die Vorsitzende mit in die „Verzweiflung“ getrieben haben. Denn vergegenwärtigt man sich die Spannbreite, die die CDU inzwischen hat – und die von sehr linksorientierten Landesverbänden, wie etwa in Schleswig-Holstein, bis zu sehr rechtsorientieren, wie in Thüringen reicht –, wird klar, daß es weit mehr bedarf, als nur einer neuen Spitze. Zumal sich das derzeitige Personaltableau dafür – Armin Laschet, Jens Spahn und Friedrich Merz – als nicht gerade ideal für diese Aufgabe darstellt: Denn die ersten beiden sind blaß und der dritte spaltet die Partei. 

Kommt es also zu einer ähnlichen Entwicklung wie in der SPD nach Andrea Nahles, als zeitweise niemand mehr den Vorsitz übernehmen zu wollen schien?

Oberreuter: Die genannten drei werden wohl schon der Meinung sein, sie seien der Aufgabe gewachsen. Doch ja, die künftige Entwicklung könnte durchaus zu einer ähnlichen Situation wie letztes Jahr bei der SPD führen: Eben wenn der künftige neue Vorsitzende merkt, daß seine Wahl allein nicht reicht, der Probleme in der Partei Herr zu werden.

Die Kieler Kultusministerin Karin Prien fordert, Parteipräsidium und Bundesvorstand sollten gegenüber der Werte-Union „endlich Konsequenzen ziehen“ und „diskutieren, ob die Mitgliedschaft in (dieser) noch mit der in der Union vereinbar ist“. Und der frühere EU-Abgeordnete Elmar Brok hat die Werte-Union gar mit einem „Krebsgeschwür“ verglichen, das man „mit aller Rücksichtslosigkeit“ bekämpfen müsse. Bricht jetzt also der „Kampf gegen Rechts“ in der Partei offen aus?

Oberreuter: Nun, das sind ja nicht die einzigen, die so denken. Inzwischen sind mehrere Stimmen in der Partei laut geworden, die den Rausschmiß aller Werteunionisten fordern. Das sind natürlich wirklich vorbildliche Vertreter eines demokratischen, innerparteilichen Pluralismus, möchte man da ironisch anmerken! Wie auch immer, der Punkt ist, daß so eine Entscheidung für die Partei spalterische Konsequenzen haben könnte. Weil das nämlich auch so manchen, der aus guten Gründen nicht Mitglied der Werte-Union ist, sich die Frage stellen lassen könnte, ob seine im Vergleich zur offiziellen CDU-Linie konservativere Haltung in der Partei wirklich noch beheimatet ist.   

Also was kommt, tatsächlich die Spaltung? 

Oberreuter: Wir hatten gerade gesagt, „wenn“ sich jene in der Union durchsetzen, die solche Unfreundlichkeiten gegen die Werte-Union fordern! 

Selbst wenn, was anzunehmen ist, die Parteiführung das – noch – vermeiden wird: Angela Merkel hat immer schon klargemacht, daß sie kein Interesse daran hat, wirklich konservative Positionen in der CDU beheimatet sein zu lassen. Läuft es also nicht früher oder später unweigerlich auf einen Rauswurf oder einen Austritt der Konservativen aus der Union hinaus? 

Oberreuter: ... und auf einen sich abwendenden wesentlichen Teil der Stammwählerschaft, wohlgemerkt. Wenn dessen Zahl schließlich groß genug ist, kann es sehr wohl sein, daß die Werte-Union eines Tages eine eigene Partei gründet. Was ja auch zur sonstigen Entwicklung unserer Demokratie passen würde – nämlich die zunehmende Fragmentierung ihres Parteiensystems. 

Fragmentierung? Erleben wir nicht eher eine Homogenisierung: Alle gegen die AfD?

Oberreuter: Schauen Sie nach Thüringen: Die Krise dort ist Folge einer Fragmentierung. Denn es gibt im Erfurter Landtag inzwischen so viele Parteien, daß der bisherige Ministerpräsident selbst mit einer Drei-Parteien-Koalition nicht mehr genug Stimmen zusammenbekommt. Gleichzeitig, da haben Sie recht, leiden die Parteien darunter, für den Wähler immer weniger politisch unterscheidbar zu sein. So war die Wahl der neuen SPD-Spitze im Herbst ja gerade davon getrieben, die Partei gegenüber dem „Einheitsbrei“ der Mitte wieder erkennbar zu machen. Aber wenn Sie von Homogenisierung sprechen und das damit begründen, daß Sie die AfD auf der einen Seite, die übrigen Parteien auf der anderen sehen, dann sage ich, daß es die AfD überhaupt nur gibt, weil wir eine Fragmentierung haben, deren Produkt diese nämlich ist! Denn die früheren Volksparteien ignorieren seit Jahren den Wunsch immer neuer Teile der Bevölkerung nach politischer Repräsentierung mit ihren speziellen Themen. So verdanken die Grünen ihre Existenz der Verweigerung des Umweltthemas durch die Etablierten, die Linke der Ignoranz gegenüber den mentalen Folgen der Vereinigungspolitik, die AfD der Nonchalance gegenüber Bedenken zur Europa- und zur Flüchtlingsfrage. Aber wer sagt uns denn, daß dieser Prozeß nun zu Ende ist? Wer weiß, ob nicht noch weitere Parteien entstehen werden oder ob die bestehenden überleben werden? Selbst die AfD könnte wieder verschwinden – allerdings wird dann etwas anderes kommen, das in die jetzt von ihr gefüllte Repräsentationslücke stößt. Fazit: Auch unabhängig von der AfD werden Regierungsbildungen in Zukunft immer schwieriger werden, weil sich die Fragmentierung fortsetzt. 

Wird nun Friedrich Merz das Rennen um den Parteivorsitz machen?

Oberreuter: Das glaube ich nicht, weil die Argumente, die gegen ihn ins Feld geführt werden, nämlich er habe sich in den letzten Jahren zu wenig um die Partei gekümmert und daß er bei den Wählern zu sehr als Repräsentant der Wirtschaft wahrgenommen wird, wirken.

Beim letztenmal im Dezember 2018 plazierte er sich allerdings weit vor Jens Spahn und in der Stichwahl mit 48,2 Prozent nur knapp hinter Kramp-Karrenbauer mit 51,7 Prozent. Was würde seine Wahl bedeuten?

Oberreuter: Für den Konflikt in der Partei nicht viel. Bestenfalls könnte er den Linksliberalen in der Union als jemand akzeptabel sein, der in gerade noch vertretbarem Maße die Brücke zu den Konservativen schlägt und die Werte-Union besänftigt. Nur würde das das Auseinanderstreben der Partei im Idealfall gerade mal für seine Amtszeit beruhigen, wenn überhaupt. Vorausgesetzt nämlich, daß es ihm gelänge, diese aus der Krise und wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Nach seiner Amtszeit, oder schon währenddessen, wenn Erfolge ausbleiben, wäre der Konflikt aber wieder da.        






Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, der Politikwissenschaftler an der Universität Passau war Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung der TU Dresden. Als CSU-Experte ist er immer wieder zu Gast in Presse, Funk und Fernsehen. Die Landtage von Bayern, Sachsen und Rheinland-Pfalz beriet er als Sachverständiger. Der 1942 geborene Breslauer dozierte zudem an den Universitäten Harvard, Columbia, Georgetown, Peking sowie an der Sorbonne und der Akademie der Wissenschaften in Moskau.

Foto: Noch-CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer: „Viele ihrer Kritiker im Fall Thüringen haben einige Prinzipien unserer Demokratie offenbar nicht verstanden ... Leider erleben wir in (dieser Hinsicht) ein wachsendes Mißverständnis: nämlich die eigene Moral für mit der demokratischen Moral identisch sowie allen anderen Wertvorstellungen überlegen zu halten“ 

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