© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Ländersache: Mecklenburg-Vorpommern
Lest keine Oden, lest die Fahrpläne
Paul Leonhard

Mit Lyrik waren die Abiturienten 2019 voll gefordert. Es ging um Ludwig Tiecks „Wonne der Einsamkeit“ und Erich Kästners „Kleines Solo“. Das Gedicht des Romantikers sollte interpretiert und mit dem Text des Dresdners unter dem „Aspekt der Gestaltung des Motivs der Einsamkeit“ verglichen werden. Daß es durch diese Aufgabenstellung um Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Bettina Martin und ihren Staatssekretär Steffen Freiberg (beide SPD) sehr einsam werden sollte, war indes nicht vorhersehbar.

Deutschlandweit stöhnten die Abiturienten. „Die Korrekturen sind ja immer ziemlich subjektiv in Deutsch“, kommentierte es einer im Internet. Eine Schülerin des Friedrich-Franz-Gymnasiums in Parchim erhielt für ihre Klausur lediglich zwei Punkte, was der Note 5 entspricht – nicht bestanden. Da sie sich ungerecht behandelt fühlte, legte sie Widerspruch ein. Aber auch eine Zweitkorrekorin und die Vorsitzende des Fachprüfungsausschusses erkannten auf zwei Punkte.

Viele solcher Fälle landen vor Gericht. Allerdings haben Lehrer aus Sicht der Juristen einen weiten Spielraum. Es drohen langwierige Prozesse mit ungewissem Ausgang. So wandte sich die Schülerin kurzerhand an das Schulamt in Schwerin. Erneut gaben Pädagogen ihr Votum ab: Es gab sechs, sieben und acht Punkte, was den Noten 4 plus, 3 minus und 3 entspricht. Das Amt wies die Schule an, der Schülerin sieben Punkte zuzuerkennen und das Zeugnis zu ändern. Dem verweigerte sich der Schulleiter, der die Kompetenzen seiner Fachlehrer höher bewertete, als die des Schulamtes. Es folgte eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Direktor. „Sofern zutreffend: zur weiteren Veranlassung gegen den Schulleiter“, notierte Staatssekretär Steffen Freiberg (SPD), der sich weder mit Tieck noch Kästner, aber von Amts wegen mit der Beschwerde auseinanderzusetzen hatte. Die Note der Deutschprüfung sei anzuheben. Dagegen laufen inzwischen die Lehrer der Fachkonferenz Deutsch mit einem offenen Brief an Bildungsministerin Bettina Martin (SPD) Sturm: „Was nützen uns beschönigte Ergebnisse oder sollten wir so bewerten, daß Schüler und Eltern zufriedengestellt werden? Dann könnte man die Noten 5 und 6 gänzlich abschaffen.“

Zensuren seien nicht verhandelbar, empört sich auch die frühere Schulleiterin Simone Oldenburg, inzwischen Vorsitzende der Linksfraktion im Schweriner Landtag: „Wir sind doch hier nicht auf dem Basar.“ Wer ein Lehramtsstudium absolviert habe, sei qualifiziert und befähigt einen Prüfungsaufsatz zu bewerten. Die Mitglieder der Fachkonferenz verweisen darauf, daß die Entscheidung des Ministeriums die Deutschlehrer am Parchimer Gymnasium angreifbar mache: „Theoretisch ist ein Einsatz in der Sekundarstufe II nicht mehr möglich, da sie offenbar nicht in der Lage sind, Abituraufsätze korrekt zu bewerten.“ Ignoriert das Ministerium aber die Entscheidung des Schulamtes, nährt das Zweifel an der Qualifikation der dort arbeitenden Pädagogen.

Angesichts dieses Proteststurms könnten sich Bildungsministerin und ihr Staatssekretär an den Händen fassen und gemeinsam Kästner zitieren „Einsam bist du sehr alleine / und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit“, was natürlich eine völlig falsche Interpretation ist.