© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Merkels Preußenschlag
Thüringen-Beben: Das Machtwort der Kanzlerin stürzt den frei gewählten Regierungschef in Erfurt – und indirekt ihre Nachfolgerin an der CDU-Spitze
Jörg Kürschner

Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat mit ihrem Rückzug auf Raten den Richtungsstreit in der CDU verschärft und eine Führungskrise ausgelöst, die auch Kanzlerin Angela Merkel in Frage stellt. Mit drohendem Unterton haben SPD, Grüne und Linke die CDU vor einer Zusammenarbeit mit den „Faschisten“ gewarnt. Gemeint ist die AfD.

AKK begründete ihren unerwarteten Schritt damit, daß die CDU durch die Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft geschwächt worden sei. Deshalb stehe sie für eine Kanzlerkandidatur nicht zur Verfügung und werde auch den Parteivorsitz abgeben. „Die Entscheidung ist seit geraumer Zeit in mir gereift“. Verteidigungsministerin wolle sie aber in Absprache mit Merkel bleiben. „Ich stehe für eine CDU, die jede Form der direkten und indirekten Zusammenarbeit mit der AfD ablehnt“, begann Kramp-Karrenbauer ihre Pressekonferenz in der Berliner Parteizentrale. Auch eine Zusammenarbeit mit der Linken könne es nicht geben. „Wir spüren starke Fliehkräfte auf unsere Volkspartei CDU“, gestand sie ohne Umschweife ein.

Die nach nur 14monatiger Amtszeit gescheiterte CDU-Chefin bestand darauf, den personellen Übergang selbst zu moderieren. Nach ihren Vorstellungen will sie im Amt bleiben, bis sich ein Bundesparteitag planmäßig im Dezember auf einen Kanzlerkandidaten geeinigt hat. Erst dann wolle sie den Parteivorsitz niederlegen und Platz für einen Nachfolger machen. Bereits wenige Stunden später widersprachen führende Unionspolitiker diesem Zeitplan. Man brauche keine „monatelange Hängepartie“, machte etwa CSU-Chef Markus Söder geltend, der bei der Merkel-Nachfolge ein entscheidendes Wort mitzureden hat. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nannte den Zeitplan „abwegig“. 

„Wie viele Kröten soll die Fraktion noch schlucken?“

„Der nächste Kanzlerkandidat wird kein Kanzler, wenn wir so weitermachen“, warnte CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble angesichts des Streits. Die zentrale Frage sei, wie der Prozeß zur Kanzlerkandidatur gestaltet werde. Die Kanzlerin reagierte betont sachlich auf den Rückzug ihrer einstigen Wunschnachfolgerin, die zuletzt wegen ihres Krisenmanagements nach der umstrittenen Ministerpräsidentenwahl in Thüringen in die Kritik geraten war. Sie habe die Entscheidung „mit allergrößtem Respekt zur Kenntnis genommen“ und bedaure diese. „Annegret“ habe „Wesentliches angestoßen und in Gang gebracht“, unter anderem das neue, bis 2030 gültige Grundsatzprogramm der CDU. Zudem habe sich die Zusammenarbeit zwischen CDU und CSU entscheidend verbessert. 

Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe verlangte indirekt den Rücktritt der Kanzlerin, der die Nachfolgeregelung nicht gelungen sei. AfD-Parteichef Jörg Meuthen sah es ähnlich. „Merkels vollständiger politischer Rückzug ist unabdingbare Voraussetzung einer wirklichen Erneuerung der CDU. Darunter geht es nicht.“ Die CDU sei inhaltlich und personell komplett entkernt. Der Historiker Andreas Rödder, selbst CDU-Mitglied, sagte, das Scheitern von AKK sei das Scheitern Merkels. In ihrer kurzen Stellungnahme hatte AKK direkte Schuldzuweisungen wegen ihres Rückzugs vermieden, der konservativen Werte-Union aber ein ungeklärtes Verhältnis zur AfD unterstellt. Auf diese Gruppierung entluden sich alsbald abfällige Haß-Reaktionen. Von einem „Krebsgeschwür“ sprach die Migrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (CDU), die sich später für diesen Begriff entschuldigte. „Separatisten und Sektierer“ nannte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) die etwa 4.000 Mitglieder. 

„Die Werte-Union ist eine Beleidigung für alle CDU-Mitglieder“, befand der saarländische Regierungschef Tobias Hans (CDU). „Die Leute von der Werte-Union gehören nicht zu uns“, meinte CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus. Eine Haltung, die im Fraktionsvorstand auf klaren Widerspruch stößt. Ein Unvereinbarkeitsbeschluß wäre das Ende der CDU als Volkspartei, versicherte ein Vorstandsmitglied der JUNGEN FREIHEIT. „Wie viele Kröten soll die Fraktion noch schlucken?“ 

Die Kanzlerkandidatenfrage konzentriert sich auf Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, Ex-Fraktionschef Friedrich Merz sowie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Bayerns Regierungschef Markus Söder wurde von dessen sachsen-anhaltischem Kollegen Reiner Haseloff ins Spiel gebracht.

Auf AKKs Nachfolger wartet die komplizierte Aufgabe, eine einheitliche Linie des Unvereinbarkeitsbeschlusses durchzusetzen. Die Gegensätze könnten größer kaum sein. „Die Linke bleibt unser politischer Gegner.“ Das sei aber nicht das gleiche wie die „Feindschaft zur AfD“, betonte etwa Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein. Thüringens AfD-Fraktions- und Parteichef Björn Höcke sei ein „bekennender Faschist“. In Sachsen-Anhalt hat dagegen Vize-Fraktionschef, Lars-Jörn Zimmer eine CDU-Minderheitsregierung mit Unterstützung der AfD ab 2021 ins Gespräch gebracht. Diese sei „denkbar“. Man könne nicht 25 Prozent der Bevölkerung vor den Kopf stoßen. Daraufhin drohte Landeschef Holger Stahlknecht Zimmer mit Rauswurf. In Thüringen empfindet CDU-Generalsekretär Raymond Walk den Unvereinbarkeitsbeschluß als „Zwangsjacke“. Neuwahlen im Freistaat seien keine Lösung, sagte er und stellte sich damit gegen die Bundespartei und den Beschluß des Koalitionsausschusses in Berlin. 

„Antifaschistische            Abwehrfront in der CDU“

Eine Delegation der CDU-Landtagsfraktion verhandelt derzeit mit der Linken über eine Rückkehr von Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow in die Staatskanzlei. Im dritten Wahlgang reiche die relative Mehrheit, so daß sich die CDU der Stimme enthalten könne. Doch dieses Angebot reicht der Linken im Freistaat nicht. „Der erste Wahlgang muß sitzen“, verlangte Linken-Landes-chefin Susanne Hennig-Wellsow. Ramelow benötige eine „demokratische Mehrheit“, mögliche Stimmen der AfD dürften das Wahlergebnis nicht entscheiden. Linke, SPD und Grüne haben im Parlament keine Mehrheit, benötigen also in den ersten beiden Wahlgängen vier Stimmen der Opposition. Vorschläge von FDP-Chef Christian Lindner und CDU-Parteivize, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, in Erfurt übergangsweise einen neutralen Kandidaten zu wählen, wurden von Rot-Rot-Grün als „Spielereien“ abgetan.

Auf Bundesebene nutzten die Parteien des linken Spektrums die Krise, um einen Linksruck der CDU zu befördern. Der Unvereinbarkeitsbeschluß gehöre aufgehoben, lautete unisono die Forderung von SPD, Grünen und Linken. Man hoffe, daß die CDU „als Volkspartei in der Mitte bleibe und nicht Kräfte der extremen Rechten entschieden, wer Verantwortung in diesem Land übernehme“, betonte SPD-Co-Chef Norbert Walter-Borjans. Man sei „gemeinsam Träger des Grundkonsenses ‘Nie wieder’“. Erstmals nach ihrer Amtsübernahme im Dezember gelang es der neuen SPD-Führung, sich als stabiler politischer Faktor zu präsentieren. Zuvor hatte der SPD-Politiker Michael Roth gar vor einer „weiteren Schwächung der antifaschistischen Abwehrfront in der CDU“ gewarnt und sich besorgt gezeigt, „ob anständige Demokraten parteiübergreifend zusammenstehen im Kampf für Demokratie und gegen Nationalismus“. Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali befürchtete, daß die Werte-Union in der CDU „jetzt Oberhand gewinnt“. Gebraucht werde jedoch kein weiterer Rechtsruck, sondern genau das Gegenteil. Ex-Grünen-Chef Cem Özdemir sah Deutschland bereits kurz vor einer faschistischen Machtübernahme. „SPD, Linke und wir Grünen werden den Faschismus nicht allein aufhalten. Da brauchen wir aufrechte Konservative.“ Nachfolgerin Annalena Baerbock forderte, die „klare Brandmauer gegen die AfD hochzuhalten.“

Bei so viel linker Fürsorge schienen Roland Kochs Mahnungen wie aus der Zeit gefallen. Die Linke sei die Nachfolgepartei der SED, erinnerte der frühere Regierungschef von Hessen. Diese habe „unter Kontrolle Moskaus 17 Millionen Deutsche jahrzehntelang in Knechtschaft gehalten und um Wohlstand beraubt, ja zahllose Menschen in Gefängnissen und an der innerdeutschen Grenze ermordet“.

Und die FDP? Die Liberalen sahen sich erstmals offenen Anfeindungen ausgesetzt, erlebten, was für AfD-Politiker zum Alltag gehört. Mitglieder würden als Nazis beschimpft, beklagte Parteichef Christian Lindner. Thüringens geschäftsführender Ministerpräsident Thomas Kemmerich erhält rund um die Uhr Personenschutz. Auch seine Familie wird bedroht und muß geschützt werden. Kemmerichs Frau sei auf der Straße angespuckt worden, heißt es in der FDP-Parteizentrale. 





Chronologie

27. Oktober 2019

Bei der Landtagswahl verliert die von Bodo Ramelow (Linkspartei) geführte rot-rot-grüne Koalition ihre knappe Mehrheit. Linkspartei und AfD haben zusammen mehr als die Hälfte der Stimmen, deswegen hat kein übliches Koalitionsmodell eine Mehrheit. 

28. Oktober 2019

Die Bundes-CDU interveniert, als Thüringens Partei- und Fraktionschef Mike Mohring eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei andeutet. Der Erfurter CDU-Fraktionsvize Michael Heym meint, seine Partei solle auch ein Bündnis mit der AfD nicht ausschließen, und löst heftige Reaktionen aus.  

1. November 2019

Thüringens AfD-Chef Björn Höcke regt in einem Schreiben an Mike Mohring (CDU) und Thomas Kemmerich (FDP) „eine von unseren Parteien gemeinsam getragene Expertenregierung oder eine von meiner Partei unterstützte Minderheitsregierung“ als „denkbare Alternativen zum ‘Weiter so‘ unter Rot-Rot-Grün“ an. 

17. Januar 2020

Linke, Grüne und SPD beschließen einen Koalitionsvertrag und planen eine Minderheitsregierung. 

5. Februar 2020

Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich wird im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt – mit Stimmen der Fraktionen von CDU und AfD. Der parteilose AfD-Kandidat erhält im letzten Wahlgang keine einzige Stimme. 

6. Februar 2020

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rügt vom Staatsbesuch in Südafrika aus das Ergebnis als „unverzeihlich“ und fordert, das Ergebnis der Wahl „rückgängig zu machen“. Kemmerich kündigt nach Druck von FDP-Chef Christian Lindner seinen Rücktritt an.

8. Februar 2020

In Berlin tritt der Koalitionsausschuß zusammen. Union und SPD fordern Neuwahlen in Thüringen. Die SPD fordert den sofortigen Rücktritt Kemmerichs. Der kommt der Forderung nach.

10. Februar 2020

Annegret Kramp-Karrenbauer gibt bekannt, auf eine Kanzlerkandidatur zu verzichten und kündigt an, den Parteivorsitz aufzugeben.