© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

„Fast jeder hat Verwandte im Lager“
Schicksal der Uiguren in China: Der einsame Kampf eines kleinen Volkes für Freiheit und Bewahrung seiner Identität
Hinrich Rohbohm

Sie haben sich alle vereint. Taiwaner, Hongkonger, Tibeter. Und Uiguren. In der Straße „Unter den Linden“, unweit des Brandenburger Tores in Berlin, sind sie zum Protest zusammengekommen. Mehrere hundert Demonstranten nehmen am „Freedom from Fear Protest“ teil. Was sie zusammenschweißt: der Widerstand gegen das kommunistische Unrechtsregime der Volksrepublik China, das seine Bürger vielfach willkürlich mit Haft, Folter und Mord überzieht.

Es sind junge Menschen aus Hongkong da, die einen Gesichtsschutz tragen, um nicht von Spitzeln der Volksrepublik erkannt zu werden. Tibeter sind gekommen, die sich in ihre Nationalfahne gehüllt haben. Der Repräsentant der Republik China (Taiwan), Jhy-Wey Shieh, tritt auf, um mit seiner Präsenz und einer Rede gegen das kommunistische Regime zu protestieren. Die Rendsburger FDP-Bundestagsabgeordnete Gyde Jensen, Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte/humanitäre Hilfe, fordert in einem Wortbeitrag die augenblickliche Schließung der Lager in der Provinz Xinjiang: „Nachdem China jahrelang zu den Internierungslagern gelogen hat, gibt es nun dank großartiger Journalisten Gewißheit über deren Existenz“, sagt sie.

Die meisten der Demonstranten sind jedoch Uiguren, eine turksprachige Ethnie aus dem Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang im äußersten Westen der Volksrepublik. Sie schwenken blaue Fahnen mit Stern und Halbmond darauf, die Flagge Turkestans. Einige Demonstranten haben sie sich zudem auf ihre Wangen gemalt.

„Fast jeder von uns hat Verwandte, die sich heute in kommunistischen Umerziehungslagern befinden“, sagt eine junge uigurische Demonstrantin gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Für viele von ihnen ist Deutschland zur Zuflucht geworden. Mehr noch: In München befindet sich der Hauptsitz des Weltkongresses der Uiguren, einem Zusammenschluß von Exilanten dieser Volksgruppe.

Ihr Präsident ist Dolkun Isa. Auch seine Familie war in eines der Konzentrationslager verschleppt worden. Konzentrationslager? „Ja, Konzentrationslager“, bekräftigt der 52jährige im Gespräch mit der JF in seinem Büro. Denn das, was derzeit in der Provinz Xinjiang geschehe, sei ein Genozid an den Uiguren, während Deutschland mit dem Regime zusehends engere Geschäftsbeziehungen pflege.

„Heute ist die Lage katastrophal“

Seit 2017 hat Isa nichts mehr von seiner Familie gehört. Dann, am 29. Juni 2018, die bittere Gewißheit. Seine Mutter ist tot. Er erfährt es nicht von Freunden oder Verwandten. Kommunikation mit ihnen ist seit einigen Jahren praktisch unmöglich geworden. Er erfährt es an diesem Tag durch einen Bericht von Radio Free Asia. Demnach sei sie nach Angaben von Sicherheitsbediensteten in einem der zahlreichen politischen Umerziehungslager gestorben. Heute weiß er: „Sie sind alle tot.“ Der Vater ebenso wie die Brüder. Die ganze Familie. „Wie sie gestorben sind, ob ermordet oder eines natürlichen Todes, weiß ich bis heute nicht“, sagt er und blickt ergriffen zu Boden.

An der Wand hinter Dolkun Isas Schreibtisch hängen die Flaggen Turkestans, Deutschlands und Europas. Für ihn Symbole der Freiheit, angesichts der Unterdrückung, die seinem Volk in China widerfährt. Warum München? Warum Deutschland als Hauptquartier?, wollen wir von ihm wissen. Wer geglaubt hätte, es seien die attraktiven Sozialleistungen, die dieser Tage für viele Migranten ein Faktor sind, um nach Deutschland zu kommen, liegt hier falsch. Denn daß sich in München eine bedeutende Community der Uiguren entwickelte, ist vor allem eine Folge des Kalten Krieges.

„München war damals der Hauptsitz von Radio Liberty“, erklärt Isa. Der 1950 vom antikommunistischen Nationalkomitee für ein freies Europa ins Leben gerufene Sender strahlte seine Hörfunkprogramme gezielt in die Ostblockstaaten aus, wirkte auf diese Weise als Stimme der Freiheit in die Länder der Diktaturen. Da der Sender auch über eine Sparte für die Uiguren verfügte und Exilanten als Journalisten beschäftigte, entstand unter ihnen in der Stadt schnell eine Gemeinschaft.

„China hat sich verändert“, sagt Isa. Für ihn keineswegs zum Guten, so wie es viele Menschen im Westen seit der wirtschaftlichen Öffnung des Reiches der Mitte nach 1992 wahrgenommen hatten. „Früher war die Lage schlimm, aber jetzt ist sie katastrophal“, meint Isa. Denn die Repressionen des Regimes gegen die Uiguren seien heute schärfer denn je. Bis 1994 hatte er noch selbst in der Provinz Xinjiang gelebt, studierte in Urumtschi (Ürümqi), der Hauptstadt der Region. Er erinnert sich an 1988. „Damals hatten wir eine Demonstration für mehr Rechte und gegen die Diskriminierung unseres Volkes organisiert.“ Natürlich sei so etwas schon damals gefährlich gewesen. „Aber das Schlimmste, was mir passierte, waren vier Monate Hausarrest. Heute wird man dafür erschossen.“ So sei es auch 2009 geschehen, als das Regime uigurische Demonstranten einfach niedergeschossen habe. Die Regierungs-Nachrichtenagentur Xinhua, deren Vorstand Mitglied des ZKs der Kommunistischen Partei Chinas ist, vermeldete 197 Todesopfer. „Aber Geflüchtete sprachen übereinstimmend von Tausenden Erschossenen“, schildert Isa.

Im Oktober 2016 habe das Regime sämtliche internationalen Flüge in der autonomen Provinz gestrichen. „Als Uigure kommt man heute aus dem Land nicht mehr raus“, erklärt Isa. „Alles wird überwacht. Es wird kontrolliert, was Sie essen, was Sie trinken, welche Kleidung Sie tragen.“ Alle 200 bis 300 Meter gebe es Kontrollstellen, an denen Ausweise verlangt und Taschen durchsucht würden. Nahezu jedes Haus in der Provinz werde mit einer Videokamera überwacht. Einem Bericht der britischen BBC zufolge kommen allein 400.000 Überwachungskameras in dieser Region zum Einsatz. In ganz China sind es derzeit 120 Millionen, demnächst sollen es 400 Millionen sein. „Damit käme dann auf fast jeden dritten Einwohner Chinas eine Überwachungskamera“, rechnet Isa vor. George Orwells „1984“ wäre dann in der Volksrepublik so gespenstische wie brutale Realität.

1990 begann der heute 52jährige ein Sprachstudium in Peking, Englisch und Türkisch. Und betrieb nebenbei noch ein uigurisches Restaurant. „Aufgrund des kulturellen Austausches war es bei Gästen aus dem Ausland äußerst beliebt gewesen. Es wurde zu einer Art internationaler Begegnungsstätte“, erzählt er der JF. Was das kommunistische Regime mißtrauisch werden ließ. Man habe ihn als Separatisten bezeichnet und das Restaurant als einen Begegnungsort für ausländische Spione.

Chinas langer Arm ist auch in Deutschland zu spüren

Isa mußte fliehen, zwei Jahre nach der sogenannten wirtschaftlichen Öffnung Chinas. Der heute 52jährige floh in die Türkei, studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Ankara. Doch 1996 mußte er erneut die Flucht ergreifen. „China hatte Druck auf die türkische Regierung ausgeübt, ich sollte ausgeliefert werden.“ Die Türken gaben ihm rechtzeitig einen Tip. Isa bat in Deutschland um Asyl, gründete in München den uigurischen Weltkongreß als globales Sammelbecken für Exilanten. Seitdem kritisiert der Kongreß das Vorgehen Chinas in der Provinz Xinjiang. Das kommunistische Regime in Peking rächte sich: Es setzte Isa ein Jahr später willkürlich auf die Fahndungsliste von Interpol. Ein beliebtes Mittel totalitärer Regime gegen Oppositionelle.

Was das bedeutete, wurde ihm besonders 1999 klar, als er in die USA reisen wollte. „Im Generalkonsulat in Frankfurt dachten sie aufgrund des Interpol-Eintrages, ich sei ein Terrorist oder ein Mörder. Plötzlich kam Sicherheitspersonal, die riefen die deutsche Polizei und lieferten mich an sie aus wie einen Verbrecher.“ Dolkun Isa rief seinen Anwalt an, mußte „alle möglichen Informationen“ zusammenbringen, um zu beweisen, daß er politisch verfolgt wird. „Wir können nicht garantieren, daß Sie in Ländern mit guten Beziehungen zu China nicht ausgeliefert werden“, warnten ihn die deutschen Behörden.

„Selbst in Südkorea hatte man mir die Einreise verweigert.“ Isa war zwischenzeitlich in Deutschland eingebürgert worden. 2009 reiste er zum Weltforum zur Demokratisierung Asiens. „Aufgrund des Interpol-Eintrages dachten die Behörden natürlich, ich sei ein gefährlicher Terrorist.“ Heute kann der 52jährige über diese für ihn vollkommen absurde Vorstellung lachen. Sein Anwalt korrespondierte mit der Interpol-Zentrale in Lyon. Jahre sollten vergehen. Erst 2018 wurde sein Eintrag gelöscht.

Doch auch in Deutschland muß Dolkun Isa auf der Hut sein. „Erst vor drei Wochen bin ich wieder attackiert worden“, erzählt er. In München. Verwandte eines von Staats- und Parteichef Xi Jinping persönlich eingesetzten Par­teisekretärs in Xianjing hätten ihn auf offener Straße angegriffen. „Halt den Mund, hör auf, meinen Onkel zu kritisieren“, sei er angeschrien worden. Zu einer körperlichen Auseinandersetzung sei es nur deshalb nicht gekommen, weil Passanten den Angreifer zurückgehalten hätten.





Uiguren unter Druck der KP

Gemäß der sozialistischen Staatsideologie erzieht die Kommunistische Partei Chinas die Bürger zur Gottlosigkeit. Von den 1,4 Milliarden Einwohnern der Volksrepublik sind etwa fünf Prozent Christen (mit steigender Tendenz) und zwei Prozent Moslems. Wie alle anerkannten Religionsgemeinschaften werden diese in „Patriotische Vereinigungen“ gezwungen, durch die sich die Partei seit 2018 die unmittelbare Kontrolle sichert. Religionsgemeinschaften müssen die „sozialistischen Kernwerte“ annehmen.

In der Provinz Xinjiang („Neue Grenze“) leben schätzungsweise 11 Millionen Uiguren. Exil-Uiguren nennen die Region „Republik Ostturkestan“. Die gezielte Ansiedlung von Han-Chinesen hat ethnische und religiöse Spannungen hervorgerufen. Der Staat antwortet mit Repression. Nach UN-Schätzungen sollen eine Million Menschen in Internierungslagern eingesperrt sein und dort indoktriniert werden. Ein Leak geheimer KP-Regierungsdokumente („China Cables“), darunter interne Reden von Diktator Xi Jinping, belegt großangelegte Verfolgung und Unterdrückung der uigurischen Volksgruppe in ihrer angestammten Heimat. Die über 400 Seiten wurden im November 2019 als Faksimiles von der New York Times veröffentlicht. (ru)

 China Cables: https://www.nytimes.com