© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Assad drückt auf die Tube
Syrien: Eskalation des Kampfes um Idlib / Die Türkei droht, Moskau und Damaskus schaffen Fakten
Marc Zoellner

Seit zehn Tagen überschlagen sich die Siegesmeldungen aus Damaskus förmlich: „Einheiten der Armee stoßen südlich von Aleppo und östlich von Idlib vor“, vermeldet die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA von der jüngsten Offensive der regierungstreuen Truppen von Präsident Baschar al-Assad gegen die letzte noch verbliebene Hochburg der Aufständischen im Land. Tunnels und Barrikaden, die von den Terroristen der Al-Nusra-Front errichtet wurden, seien von der Armee erobert worden, heißt es weiter. 

Moskau warnt vor Macht der Dschihadisten

Tatsächlich erstaunt, mit welch ungewohntem Tempo die Syrisch-Arabische Armee (SAA) derzeit voranrückt. Dutzende Dörfer südwestlich der Metropole Aleppo sind beinahe ohne Gegenwehr gefallen, die letzten Teilstrecken der Fernverkehrsstraße M5, die Aleppo mit Hama, Homs und Damaskus verbindet, vom Militär gesichert. Vom Norden her zieht sich der Kessel um Idlib, die Hauptstadt der gleichnamigen umkämpften Provinz, systematisch zu.

Für viele der drei Millionen verbliebenen Einwohner Idlibs, von denen die Mehrzahl selbst aus anderen Provinzen des Landes in den Nordwesten geflohen war, kommt die Nachricht vom Anrücken der syrischen Armee einem Desaster gleich: Der Großteil der Städte und Siedlungen wurde von den nunmehr neun Jahre andauernden Kampfhandlungen zerstört. Zudem hat ein harscher Winter mit Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes die Region im Griff. Auch mangelt es an Nahrung, Kleidung, trinkbarem Wasser und Medikamenten. Zehntausende Menschen leben in provisorisch von Hilfswerken errichteten Zeltanlagen. 

Seit Beginn der Offensive fliegen russische Kampfflugzeuge täglich bis zu 150 Angriffe auf militärische wie auf zivile Ziele. Allein seit Anfang Dezember sollen Berichten der Vereinten Nationen zufolge durch diese Luftschläge bis zu 300 Zivilisten getötet worden sein. Nach Angaben der Hilfsorganisation Unicef flohen weit über 390.000 Menschen aus dem Zentrum der Provinz an die türkische Grenze, um als Flüchtlinge anerkannt zu werden.

„Wir haben im Moment alle Hoffnung verloren“, berichtet der 50jährige Abu Omar aus der Kleinstadt Hass im Süden Idlibs dem britischen Guardian. „Als die türkischen Beobachtungsposten errichtet wurden, dachte ich, der Krieg sei vorbei und das syrische Regime könne nicht mehr weiter vormarschieren. Nun passiert genau das Gegenteil.“ 

Zwölf Stützpunkte hatte das türkische Militär nach der Waffenstillstandsvereinbarung Ankaras mit Moskau vom September 2018 rund um die Provinz Idlib errichtet, um die Waffenruhe zu überwachen. Fünf davon sind mittlerweile von syrischen Truppen umschlossen. Am 3. Februar kamen bei einem Angriff der SAA auf einen der Stützpunkte sieben türkische Soldaten sowie ein Zivilist ums Leben. Die Türkei ordnete Gegenangriffe auf 50 Ziele der syrischen Armee an und tötete dabei türkischen Medienberichten zufolge 76 Angehörige der SAA.

Seitdem schaukelt sich der Konflikt hoch: Vergangenes Wochenende drangen Konvois von bis zu 350 gepanzerten Fahrzeugen aus der Türkei nach Syrien vor, um die Beobachtungsposten zu verstärken. Noch am Montag entbrandten heftige Kämpfe zwischen türkischen und syrischen Einheiten östlich der Provinzhauptstadt, wo die türkische Armee eine Gegenoffensive der Rebellen unterstützt. 

Noch am Wochenende hatte die türkische Regierung mit militärischen Konsequenzen gedroht, sollte die syrische Regierung ihre Offensive gegen Idlib nicht stoppen. „Unsere Beobachtungsposten bleiben gemäß unseres Abkommens bestehen“, erklärte Ankaras Verteidigungsminister Hulusi Akar hierzu im Interview mit der türkischen Tageszeitung Hürriyet. „Wenn das Abkommen weiter verletzt wird, haben wir bereits Plan B und Plan C entwickelt.“ 

Das mit Rußland vereinbarte Abkommen gestattete Moskau und Damaskus in Idlib lediglich das militärische Vorgehen gegen islamistische Gruppierungen wie Al-Nusra sowie die übergeordnete Dachorganisation Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS), in welcher Medienberichten zufolge auch über 60 deutsche Staatsbürger als Dschihadisten kämpfen.

 Doch Moskau betont, der HTS habe mittlerweile die gesamte Idliber Provinz unter Kontrolle bekommen, was den Vormarsch der SAA nach Vertrag rechtfertige. Parallel verlaufende Verhandlungen zwischen Rußland und der Türkei, um eine politische Lösung für Idlib zu finden, verliefen am Montag jedoch ergebnislos und wurden auf kommende Woche verschoben.