© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Sorge um die festgefahrenen „Gewißheiten“
Mercator Stiftung: Bei den Themen Europa, Integration, Bildung und Klimawandel setzen die Essener Zeichen / Gern gesehener Ratgeber in Berlin
Christian Schreiber

Bei Themen wie Energiewende oder Integration mischen  private Stiftungen kräftig mit und üben beträchtlichen politischen Einfluß aus. Eine der aktivsten ist die Stiftung Mercator in Essen, die derzeit vor allem in Sachen Klimwandel Lobbyarbeit verrichtet. Mit einem jährlichem Fördervolumen von zuletzt 65 Millionen Euro gehört sie zu den größten Privatstiftungen in Deutschland. 

Eingerichtet wurde die Stiftung 1996 von der Familie Schmidt-Ruthenbeck, die in den sechziger Jahren mit zwei Partnern den Handelskonzern Metro gründete und heute noch Anteile an dem Unternehmen besitzt. Seit 2017 ist die Meridian-Stiftung die übergeordnete Muttergesellschaft für die deutsche Mercator-Organisation und ihren gleichnamigen Schweizer Ableger. 

Motor war über Jahre Bernhard Lorentz, der bis 2014 an der Mercator-Spitze stand. „Unter ihm hat sich die Stiftung Mercator zu einem einflußreichen Akteur bei gesellschaftlichen Mega-Themen wie Energiewende, Integration oder Bildung entwickelt“, schrieb das Manager Magazin. Lorentz habe etwa die traditionell konkurrierenden Universitäten im Ruhrgebiet erfolgreich zu mehr Kooperation angetrieben. 

„Mit der Jungen Islam Konferenz (JIK) schuf er ein neues Forum für die Integrationsdebatte“, heißt es weiter. Und mit dem China-Forschungszentrum Merics habe er einen „der ambitioniertesten Thinktanks in Berlin aufs Gleis gesetzt.“ Lorentz Nachfolger Winfried Kneip lobt dessen Arbeit. Gerade vor dem Hintergrund des „zunehmenden Rechtspopulismus und des bröckelnden gesellschaftlichen Zusammenhalts“ sei es wichtig, daß „Räume für Dialog und Austausch“ geschaffen werden, in denen „gemeinsam diskutiert“ werden könne, wie das „Zusammenleben in unserer Einwanderungsgesellschaft in einem positiven Miteinander“ gestaltet werden könne, betonte Kneip bei der Eröffnung der JIK-Bundeskonferenz im März 2017.

„Kurs halten in stürmischen Zeiten“

Im Juli 2018 schlug die Stiftung, die eine Gesellschaft anstrebt, die sich durch „Weltoffenheit, Solidarität und Chancengleichheit“ auszeichnen soll, Alarm: „Populisten sind in vielen Ländern Europas weiter auf dem Vormarsch und damit viele Themen der Stiftung Mercator unter Beschuß.“ Entprechend gelte es, „Kurs zu halten in stürmischen Zeiten“, hieß es aus Essen unter Hinweis auf den Einzug der „rechtspopulistischen“ AfD  in den Bundestag. „Feste Gewißheiten scheinen nicht mehr zu gelten. Wie kann in diesem Klima ein Zusammenleben möglich sein? Wir machen uns angesichts dieser Entwicklungen Sorgen.“

Vor allem wenn es um das Thema Klimawandel geht, führt in Regierungskreisen kaum noch ein Weg an Mercator vorbei.  Zu Jahresbeginn sorgte die Meldung für Aufsehen, Deutschland habe 2019 über 50 Millionen Tonnen weniger Treibhausgase in die Luft geblasen. Das sei mehr als die Experten erwartet hätten. Und damit könne Deutschland sogar sein selbst gestecktes Ziel von 40 Prozent weniger Klimagasen im Vergleich zu 1990 erreichen. 

Die interessanteste Nachricht dabei: Wind-, Wasserkraft-, Solarstrom und Biogasanlagen hätten erstmals zusammen mehr Strom erzeugt als Kohle- und Kernkraftwerke zusammen. Und: Solar- und Windenergie seien mittlerweile nach Jahren der Förderung so profitabel, daß sie auf dem europäischen Strommarkt deutlich preiswerter sind als Kohlewerke.

 Der Norddeutsche Rundfunk hält diese Angaben durch Analysen anderer Experten für „seriös und plausibel“. Für die Veröffentlichung der Medien war der Verband Agora Energiewende verantwortlich. Dabei handelt es sich um eine Politikberatung, die vor acht Jahren von der European Climate Foundation und der Stiftung Mercator ins Leben gerufen wurde. 

Und diese macht ordentlich Stimmung. Die Nachrichten seien zwar gut, aber keinesfalls ein Verdienst der Politik, sagt Agora-Chef Patrick Graichen. Die bisherige nationale Klimapolitik von Union und SPD habe seiner Einschätzung nach wenig bis nichts mit dem Fortschritt im Klimaschutz zu tun: „Das ist ihnen in den Schoß gefallen“, sagte er. Der Stromverbrauch erreichte Agora Energiewende zufolge im vergangenen Jahr den niedrigsten Stand seit der Jahrtausendwende. Das liege aber am geringeren Wirtschaftswachstum und der konjunkturellen Lage der energieintensiven Industrien, etwa des Stahlsektors. 

Die erneuerbaren  Energien erreichen bisher nur einen Anteil von knapp 15 Prozent am Energieaufkommen. Da zugleich der Ausbau vor allem von Windrädern nicht mehr so schnell vorankommt, könne es zu einer Renaissance der Kohleförderung kommen. Für Agora ein Unding. Die Bundesregierung müsse die Rahmenbedingungen ändern, forderte Graichen: „Ohne Windkraft werden wir weder den Kohleausstieg noch die Klimaschutzziele erreichen.“ Das Beispiel Agora zeigt den großen Einfluß, den die nach dem flämischen Humanisten benannte Stiftung seit Jahren hat. Der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel holte nach der Bundestagswahl 2013 Rainer Baake als Staatssekretär in sein neuformiertes Wirtschafts- und Energieministerium. Baake, der schon den grünen Umweltministern Jürgen Trittin in Berlin und Joschka Fischer in Hessen als Staatssekretär diente, stand zuvor an der Agora-Spitze. 

Als Lobby-Instrument der Mercator-Stiftung dient vor allem die Publikation Aufruhr. Bei der Namensgebung handelt es sich um ein geschicktes Wortspiel. Einerseits soll mit dem rebellisch klingenden Titel eine jugendliche Zielgruppe angesprochen werden, andererseits die regionale Bindung zum Ruhrgebiet betont werden. Das Ballungsgebiet mit all seinen Problemen des Strukturwandels ist ein Hauptagitationsfeld der Stiftung.

Als Ziele beschreibt Mercator unter anderem, allen Jugendlichen umfassende Bildung und Chancengleichheit zu ermöglichen, Selbstentfaltung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu stärken sowie Wissenschaft und Forschung bei ihren Zielen und Themen im Interesse aller zu fördern. Und natürlich wird Multikulturalität groß geschrieben. 

So ist es ein wichtiges Anliegen, „die Verständigung und den Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen zu unterstützen, für ein geeintes Europa einzutreten sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Überzeugungen und unterschiedlicher sozialer Lage zu verbessern und die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren.“ 

Das Magazin Aufruhr bietet dabei ausführliche Berichte und Videoclips zu den Themen „Europa, Integration, Klimawandel und Kulturelle Bildung.“ Politisch korrekt natürlich:  Das Thema Klima sei für den Kulturbereich noch neu, sagt beispielsweise Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Für Veränderungen seien Verzichtsappelle nicht hilfreich. Den Menschen sei intellektuell klar, daß sich etwas tun müsse: „Aber passieren wird es nur, wenn es einen kulturellen Wandel gibt.“ 

Dutzendweise gibt es Berichte mit Hinweisen auf Institutionen und Vereine, die von Mercator gefördert werden und die nach Angaben der Stiftung „sinnvolle Beiträge“ zum Thema Klimawandel oder Integration leisten. Das „Projekt Sonne2Go nutzt die Sonne und bringt das anderen bei“ oder „Einen Stadtteil nachhaltig machen – das will der Verein Aufbruch am Arrenberg“, lauten Überschriften. Und Dirk Tröndle von der Iranischen Gemeinde in Deutschland erklärt, wie er die Migrantencommunity für Klimaschutz sensibilisieren will.  

Einen breiten Raum nimmt die Berichterstattung über die Klima-Bewegung „Fridays for Future“ ein. „Sie haben bereits enorm viel erreicht: Klimaschutz ist dank der streikenden Jugend wieder zu einem zentralen politischen Thema geworden. Auch bei Familienfeiern, an der Kaffeemaschine im Betrieb, bei Elternabenden, beim Abendessen mit Freunden wird über die Erdüberhitzung gesprochen“, lautet die positive Bilanz. Sozialforscher seien überzeugt, daß sich das allgemeine Bewußtsein für die Ernsthaftigkeit der Klimakrise steigern lasse,  wenn mehr darüber gesprochen werde: vor allem im Freundes- und Familienkreis. „Dies ist vor allem deshalb von politischer Bedeutung, weil Menschen sich ernsthafter mit Informationen auseinandersetzen, die von Nahestehenden kommen. Was wiederum dazu führen kann, auch mit anderen über das Thema zu sprechen“, gibt es gleich eine Handlungsanleitung mit. 

Neben der Klimadebatte beschäftigt und fördert die Stiftung vor allem Projekte, die sich mit der Integration von Migrantenkindern beschäftigen. „Einen Schwerpunkt des Stiftungsengagements stellen Förderprojekte dar, die den Bildungserfolg benachteiligter Kinder und Jugendlicher, insbesondere mit Migrationshintergrund, erhöhen“, heißt es.  Ein wichtiges Projekt neben anderen unterstütze Schulen und Verwaltung in vier Bundesländern dabei, sich zum Umgang mit Vielfalt in Schulen zu qualifizieren und konkrete Unterrichtskonzepte zu entwickeln. 

In den kommenden fünf Jahren stellt die Stiftung dafür knapp sieben Millionen Euro zur Verfügung. Ein weiteres bedeutendes Förderprojekt ziele auf die Stärkung der interkulturellen Kompetenz der Polizei. Hier wurden rund 1,8 Millionen Euro bereitgestellt, um in Kooperation mit der Deutschen Hochschule der Polizei die polizeiliche Personal- und Ausbildungspolitik zu untersuchen sowie die interkulturelle Kompetenz von Polizisten weiter zu stärken. „Für Bildung und Integration konnte die Stiftung 2018 insgesamt Förderzusagen im Umfang von 23,7 Millionen Euro machen“, schreibt der Stiftungsvorstand in seinem Jahresbericht.

Mercator nimmt Berlins Außenpolitik ins Visier

Der Geschäftsführer der Stiftung Mercator, Winfried Kneip, ein Bildungsexperte, der zuvor sechs Jahre lang die Geschäftsführung der Yehudi Menuhin Stiftung Deutschland innehatte, sitzt auch im Vorstand des Rates für kulturelle Bildung, der sich für mehr Ganztagsschulen und gegen die Rückkehr zu G9 einsetzt. 

Im Gegensatz zu seinem Förderer Lorentz tritt Kneip weniger öffentlich in Erscheinung, führt dessen Linie aber konsequent weiter. Der ehemalige Chef des Umweltprogramms der Vereinten Nationen und Ex-Umweltminister Klaus Töpfer bescheinigte Lorentz, der Stiftung Mercator „ein klares und verläßliches Profil“ geschnitten zu haben. Stiftungen wie Mercator hätten sich in den vergangenen Jahren zu „kraftvollen Stimmen“ entwickelt, die den Regierenden immer öfter „Feuer unter dem Stuhl“ machten.  

Dies scheinen sie künftig verstärkt auch in Sachen Außenpolitik tun zu wollen. Ein Beispiel: Der Politologe und Sinologe Sebastian Heilmann kommt in vielen Medien als einer der führenden China-Experten in Deutschland zu Wort. Dort warnt er gerne vor der Gefahr des chinesischen Einflusses auf die deutsche Wirtschaft. Was viele nicht wissen: Der 54jährige ist Gründungsdirektor des Mercator-Instituts für China-Studien in Berlin. Ein Hauptkritikpunkt an China lautet: mangelndes Engagement in Sachen Klimaschutz.