© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Vordenker der Antiautoritären
68er-Studentenbewegung: Vor fünfzig Jahren starb mit Hans-Jürgen Krahl einer ihrer klügsten Vertreter
Werner Olles

Es passiert in der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 1970. Auf einer Fahrt von Paderborn nach Frankfurt am Main kommt bei einem Verkehrsunfall auf einer vereisten Landstraße in Nordhessen der 27jährige Hans-Jürgen Krahl, neben Frank Böckelmann der bekannteste Theoretiker des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und der antiautoritären Bewegung, ums Leben.

Bei Glatteis ist der Kleinwagen ins Schleudern geraten und mit einem Lkw zusammengestoßen. Krahl stirbt noch an der Unfallstelle, der Fahrer nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus, die anderen Insassen werden schwer verletzt. Kurz nach dem Eintreffen der Unglücksnachricht im Büro des SDS-Bundesvorstands in Frankfurt begeben sich die beiden früheren SDS-Bundesvorsitzenden Karl Dietrich Wolff und sein Bruder Frank zum Ort des tragischen Geschehens und suchen dann die Verletzten im Krankenhaus auf.

In einer am Tag darauf vom AStA und vom Sozialdemokratischen Hochschulbund (ab 1972 Sozialistischer Hochschulbund, SHB) gemeinsam herausgegebenen Pressemitteilung heißt es, Krahl habe auf exemplarische Weise jene „kompromißlose Moral“ verkörpert, „mit der die Protestbewegung an die vom Faschismus verschütteten revolutionären Traditionen“ habe anknüpfen wollen.

Der SDS hatte es hingegen noch in der Nacht auf einer Mitgliederversammlung, bei der auch der Autor dieser Zeilen anwesend war, abgelehnt, „den bürgerlichen Gepflogenheiten und Wertmaßstäben“ entsprechend einen Nachruf zu veröffentlichen. In der Frankfurter Rundschau schrieb Wolfram Schütte: „Hans-Jürgen Krahl war neben Rudi Dutschke eine der beherrschenden Figuren des SDS. Man hat ihn gelegentlich mit Robespierre verglichen. Damit sollte nicht allein die schneidende Konsequenz seiner theoretischen Einsichten, die er kompromißlos zu Ende dachte, charakterisiert werden, sondern auch sein überragendes agitatorisches Vermögen. Er wußte es zielbewußt zu nutzen – noch im Gerichtssaal (…) hat seine Kurzbiographie, die er eine „Odyssee durch die Organisationsformen der herrschenden Klasse“ nannte, auch jenen Respekt abgefordert, die Krahls politischen Weg nicht nachvollziehen konnten.“

Krahls Lebensweg, der schließlich fünf Tage nach seinem Tod mit der informellen Auflösung des SDS endete, begann 1943 im niedersächsischen Sarstedt. In Göttingen studierte er Philosophie, Geschichte und Germanistik und gehörte der schlagenden Verbindung Verdensia an. Weit entfernt von den Theorien der Frankfurter Schule war er Mitglied im Ludendorff-Bund, der Deutschen Partei und Gründungsmitglied der Jungen Union in Alfeld.

Daß sein Weg ihn nach Frankfurt, zum SDS und seinem Doktorvater Theodor W. Adorno führen würde, war ihm nicht vorgezeichnet, gehört aber gleichwohl zu seinem Karma. Im SDS unternahm Adornos „Lieblings-Schüler“ bis zuletzt den Versuch einer veränderten politischen Funktionsbestimmung der wissenschaftlichen Intelligenz, was ihm den Haß der Heidelberger SDS-Gruppe unter Joscha Schmierer, die später im KBW ihren intellektuellen Offenbarungseid leistete, einbrachte. Krahl sah die von Schmierer und Genossen ins Auge gefaßte „Liquidation der antiautoritären Phase“ als eine folgenschwere „Verdrängung der Emanzipationsdebatte“.

In der von Detlev Claussen, Bernd Leineweber und Oskar Negt verfaßten Trauerrede bei seiner Beisetzung am 20. Februar in Hannover kommt sein theoretischer Ansatz noch einmal deutlich zum Ausdruck: „Es wäre ein gefährlicher Irrtum, wollte man die Schwierigkeiten einer Vermittlung zwischen Studentenbewegung und Arbeiterklasse statt auf die konkreten Lebensbedingungen des Proletariats auf den verengten Horizont von Disziplin, straffer, zentralistischer Kaderorganisation und Leistung zurückführen. Die Entfaltung der konkreten Utopie in der eigenen Organisation, ihrer Theorie, ihrer Agitation und selbst in ihren gewaltsamen Aktionen muß dagegen bestimmte Negation sein (…) Niemand hat das mit größerer Entschiedenheit und Klarheit formuliert als Hans-Jürgen Krahl.“

Das Milieu dürstete nach Kaderdisziplin

Mit Krahls Tod endete „der kurze Sommer der Anarchie“ (Hans Magnus Enzensberger). Das linksradikale Milieu der Studentenbewegung dürstete nach Kaderdisziplin, Führung und Autorität, es war die Stunde der diversen K-Gruppen, die sämtlich den Anspruch hatten, als Nachfolger der historischen KPD in die Geschichte einzugehen. Ihren Wahn und ihr Scheitern hatte Krahl prophetisch genauso vorausgesehen wie die trostlose Apologetik und leere Geste einer neuen Spielart von institutionellem Marxismus/Leninismus. Ein Stück politischer Geschichte der Bundesrepublik fand ihr tristes Ende in zahllosen Parteigründungsinitiativen, deren Politik der Illusionen durch ihre Folgenlosigkeit und Beliebigkeit zwangsläufig scheitern mußte.

Hans-Jürgen Krahls ehrenwerter und notwendiger Versuch einer Fortentwicklung der Kritischen Theorie ohne den von Habermas vorangetriebenen Erneuerungsversuch, Gesellschaftstheorie als Kommunikationstheorie zu reformulieren und ohne die größenwahnsinnigen KP-Mißgeburten, konnte „in einer Gesellschaft, die ein Interesse daran hat, die zu bleiben, die sie ist“, wie sie der rechtskonservative Münsteraner Philosoph Günter Rohrmoser korrekt deutete, nur in Metaphysik, Positivismuskritik und Ontologie enden. Die Erinnerung an den viel zu früh verstorbenen Hans-Jürgen Krahl als „Prophet der Neuen Linken“ und einen der bedeutendsten Köpfe des SDS hat dennoch auch fünfzig Jahre nach seinem Tod ihre Berechtigung.

Weitere Informationen zu Hans-Jürgen Krahl gibt es im Netz unter:

 https://krahl-seiten.de

 www.hjki.de