© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Der Homo Politicus in der Migrationsgesellschaft
Politische Bildung soll den Bundesbürger künftig in die Kunst des Aushandelns einführen
Dirk Glaser

Politik, Geschichte und Sozialkunde gelten im Schul- und Berufsschulunterricht seit langem als weit weniger relevant als naturwissenschaftliche oder neusprachliche Fächer. Der Homo Oeconomicus habe offenbar den Homo Politicus, der flexible Marktteilnehmer den mündigen Bürger als Bildungsziel verdrängt.

Was der seit zwanzig Jahren an der Spitze der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) stehende Theologe Thomas Krüger (SPD) mit diesem Befund beklagt (Bildung und Erziehung, 3/2019), klingt vordergründig wie sozialistische Selbstkritik. Wer, wenn nicht der BPB-Chef mit seinem Millionenetat, hätte diese Entwicklung denn bremsen, wenn nicht sogar aufhalten können? Eine Frage, die sich Krüger aber nicht stellt. Weil sie ihn folgerichtig zu dem zu wahrer Selbstkritik nötigenden Problem führen würde, ob das aus den 1970ern stammende Erziehungsideal „mündiger Bürger“ in der „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel) überhaupt noch ernst genommen wird. 

Wohl eher nicht. Aber nicht, wie Krüger vorgibt, weil in Schulen und Hochschulen die „allzu starke Priorisierung der MINT-Fächer“ zwecks totaler Mobilmachung der technischen Intelligenz stattfindet, um die internationale Spitzenposition des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu behaupten. Sondern weil der einstige DDR-Dissident als systemtreuer bundesdeutscher Funktionär mithilft, die fundamentale Voraussetzung dieses Bildungsziels, den demokratischen Nationalstaat, auf den Aussterbeetat zu setzen. 

Politische Bildung zielt unter den teilweise schon realisierten postnationalen, „multikulturellen“ Verhältnissen daher nicht mehr auf die Befähigung zur „Partizipation“ an der Gestaltung eines historisch konkreten Gemeinwesens, des Verfassungssouveräns „deutsches Volk“. Vielmehr stellt Deutschland für Krüger eine unter vielen „globalisierten, diversifizierten Migrationsgesellschaften“ dar. Deren „Bürger“ die Bedingungen ihres Zusammenlebens, wie er im Rückgriff auf ein geflügeltes Wort seiner Parteigenossin Aydan Özoguz, der ehemaligen Staatsministerin und Integrationsbeauftragten im dritten Kabinett Merkel, unterstellt, „täglich neu aushandeln“. 

Diese faktisch postdemokratische Gesellschaft, zu der qua Zuwanderung „stetig neue Milieus und Communities“ hinzukämen, bedarf für Krüger keiner ethnisch-kulturellen Homogenität, weil ihre Mitglieder in der Lage seien, von ihren „diversen“ Prägungen durch den Ballast von Herkunft, Tradition, Kultur abzusehen und sich als derart im luftleeren Raum bewegende „Akteure“ ausschließlich der „demokratischen Diskursrationalität“ zu unterwerfen, die automatisch zu „rationalen Wahlentscheidungen“ und zum friedlichen Miteinander führe. Krügers Vordenker, der urdeutsche Träumer Jürgen Habermas, überzeugt davon, daß Demokratie keiner kulturellen Homogenität bedürfe, weil ein paar grundgesetzliche Spielregeln „ein vernünftiges normatives Einverständnis auch unter Fremden ermöglichen“, hätte es nicht schöner formulieren können. 

Allein um dieses „Aushandeln“ schulisch zu trainieren, darum geht es Krüger künftig noch. Darum müsse die Stundenzahl für das Unterrichtsfach Politik ebenso erhöht werden wie sein BPB-Etat. Und daher sei auch wünschenswert, mit politischer Bildung knapp oberhalb des Kindergartens einzusetzen: „Ein guter Schritt wäre die deutliche Markierung politisch bildnerischer Anteile bereits im Sachunterricht an Grundschulen.“ Denn die „politische Bildungsbiographie“ könne gar nicht früh genug beginnen.

Komplexe, diffundierende und zerstreute Gesellschaft

Das mit missionarischem Eifer skizzierte BPB-Unternehmen, „Bewußtsein für demokratische Aushandlungsprozesse“ zu schaffen, für eine Gesellschaft, in der es keine „Abgrenzungsprozesse“ mehr gebe, keine „Abweichungen von der als Mainstream wahrgenommenen ‘Norm’“, weder für Frauen noch Homosexuelle, noch „Migrant*nnen“, weist jedoch einige kaum zu verdeckende Widersprüche auf. Wird etwa der von Krüger so hoch gehaltene originär bundesrepublikanische Rechtsstaat verschont vom aushöhlenden „Aushandeln“? Falls ja, wirkte das nicht ausgrenzend auf jene „Communities“, die es mehr mit der Scharia halten? Oder auf jene „Milieus“, die in Sachen Frauenemanzipation nicht so enthusiastisch für Abweichungen von der Norm schwärmen wie Krüger? Zieht die Zumutung, kulturfremde Zuzügler, die fest verwurzelt sind in ihren archaischen Strukturen, auf Habermas’ Diskursrationalität zu verpflichten, nicht rituell den Vorwurf des „Kulturrassismus“ auf sich? Wenn zuallererst deren religiöser „Hintergrundkonsens“ (Habermas) aus „kultursensiblen“ sowie, wegen der Abschottung der etablierten Parallelgesellschaften, aus praktischen Gründen dem „Aushandeln“ entzogen ist, wie kann politische Bildung dann „integrieren“?

Um sich darüber keinen Kopf machen zu müssen, identifiziert Krüger nur eine einzige Gefahr für seine „schöne neue Welt“ der „höchst komplexen, diffundierenden und zerstreuten Gesellschaft“. Das sind die „Vereinfacher*innen und Nationalist*innen“, deren „extremistische und populistische Verführungen“ inzwischen die Mitte erreichten, und die nur aus purer Lust am Zerstören politisch handeln, nicht weil ihnen die „globalisierte Migrationsgesellschaft“ realen Anlaß zu Kritik und Protest böte. Deren Herausforderung Krüger gelassen annimmt. Sei die BPB doch „weltweit die einzig finanzierte Einrichtung, die qua ihres Auftrags überparteiliche Orte schafft, an denen Demokratie erprobt werden kann“. Es steht zu befürchten, daß der einstige Vikar an die Überparteilichkeit seiner Behörde genauso felsenfest glaubt wie an das Aushandeln als Fundament des demokratischen Rechtsstaats.