© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Der Fleischwolf im Westpazifik
Im Februar 1945 eroberten US-amerikanische Marineinfanteristen die japanische Insel Iwojima / Sprungbrett für künftige Luftschläge gegen die Hauptinsel
Michael Dienstbier

Wer die USA von heute verstehen will, der schaue auf dieses Foto: Sechs Soldaten rammen auf einer Anhöhe gemeinsam einen Mast in den Boden, wobei die amerikanische Flagge bereits erhaben über ihren Köpfen weht. Unmittelbar nach ihrer Entstehung begann die Ikonisierung der Aufnahme, die heute das Selbstverständnis einer stolzen Nation mit globalem Führungsanspruch symbolisiert. Als der Pressefotograf Joe Rosenthal am 23. Februar 1945 den Auslöser seiner Kamera betätigte, ahnte er nicht, daß er noch im selben Jahr für sein Foto „Raising the Flag on Iwo Jima“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet werden würde. Rosenthal wähnte sich viel mehr als zu spät Gekommener, da er lediglich der Wiederholung der Prozedur beiwohnte – beim ersten Mal wenige Stunde zuvor war die Flagge für den gewünschten propagandistischen Zweck schlicht zu klein gewesen. Der Pazifikkrieg drohte noch lange anzudauern, da die Fertigstellung der Atombombe zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen war. Die zahlreichen mitreisenden Journalisten hatten den Auftrag, ein Symbol nationalen Durchhaltewillens auf Zelluloid zu bannen, um der sich ausbreitenden Kriegsmüdigkeit an der Heimatfront entgegenzuwirken.

Iwojima, eine kleine Vulkaninsel im Pazifik, sollte den Amerikanern als Luftwaffenstützpunkt für den Luftkrieg gegen Japan dienen. Die sechswöchige Schlacht endete am 26. März 1945 und war für beide Seiten sehr verlustreich. Nur etwa 1.000 der 21.000 japanischen Soldaten überlebten, und auch 7.000 Amerikaner fielen in der Schlacht. Die Japaner hatten sich in den auf der Insel zahlreich vorhandenen unterirdischen Höhlen verbarrikadiert, die einzeln nacheinander erobert werden mußten – ein auch für die Maßstäbe des Zweiten Weltkrieges äußerst brutaler Kampf. Daß ein Schauplatz auf Iwojima als „Meat Grinder Hill“ (Fleischwolf-Hügel) in die Geschichte eingegangen ist, spricht für sich.

Und doch ist es nur des Fotos und nicht der vielen Toten wegen, daß Iwojima heute eine zentrale Rolle im kulturellen Gedächtnis der USA innehat. Die US Army erkannte sofort das ikonische Potential von Rosenthals Schnappschuß und sorgte dafür, daß er bereits am 25. Februar 1945 in allen großen Zeitungen des Landes erscheinen konnte. Noch im selben Jahr entwickelte sich das Bild zum Symbol schlechthin für die zu leistenden Kriegsanstrengungen. Im April zierte es ein Werbeposter zur Zeichnung von Kriegsanleihen, und im Weißen Haus wurde unter Anwesenheit Präsident Franklin D. Roosevelts ein nach Vorlage des Fotos angefertigtes Gemälde präsentiert. Am 9. Mai wurden drei der sechs Soldaten nach Washington geflogen, um auf dem Kapitol die Originalflagge zu hissen. Die drei anderen haben die Schlacht auf Iwojima nicht überlebt.

Das Iwojima-Foto erlangte ikonographische Bedeutung 

Zentraler Erinnerungsort für das US Marine Corps ist heute der Soldatenfriedhof in Arlington. Hier wurde 1954 ein überlebensgroßes Denkmal – jede der sechs Figuren mißt zehn Meter, der Fahnenmast 18 Meter – nach Vorlage des Rosenthal-Bildes eingeweiht. Auf dem Sockel sind alle als wichtig empfundenen Schlachten unter Beteiligung des Marine Corps seit dem amerikanischen Bürgerkrieg eingraviert. Unumstritten war das Denkmal zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht, warfen viele dem Marine Corps, das ja nur einen Teil der US-amerikanischen Streitkräfte repräsentiert, vor, den Sieg im Zweiten Weltkrieg nur für sich in Anspruch zu nehmen. Der anhaltenden Popularität des Denkmals tat dies aber keinen Abbruch.

Symbole stiften Identität und können in Momenten der Krise einer Nation Trost und Kraft für das Kommende schenken. Am 11. September 2001 hißten drei Feuerwehrleute in den noch rauchenden Trümmern des World Trade Center die Flagge der USA. Das entsprechende Foto „Raising the Flag at Ground Zero“ wurde innerhalb weniger Minuten zur ikonischen Darstellung dieses Tages und stellte den bevorstehenden „Krieg gegen den Terror“ in eine Linie mit dem Kampf gegen NS-Deutschland und dessen Verbündeten. Glücklich schätze sich das Land, welches aus einem reichhaltigen Fundus positiv konnotierter Symbolik schöpfen kann.