© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Er blieb nur der Beinahe-Kanzler
Brandt-Herausforderer und Helmut Kohls Rivale: Der Historiker Kai Wambach seziert Rainer Barzel
Jan-Hendrik Dany

Die Betrachtung gegenwärtiger und ehemaliger CDU-Spitzenpolitiker verengt sich seit Jahren auf zwei Namen. Auf jene von Angela Merkel und Helmut Kohl. Vereinzelte salbungsvolle Rückbezüge auf Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ändern an der Merkel- und Kohl-Fixierung wenig bis gar nichts. Mit beiden Kanzlern, mit Merkel und Kohl, wird der Verlust des konservativen Profils deutscher Christdemokratie assoziiert. Merkel, die gleich reihenweise als unumstößlich geltende Grundpositionen der CDU abgeräumt hat, steht zweifellos in sehr viel höherem Maße für die vielzitierte „Sozialdemokratisierung“ der Union als Kohl. Im Zuge der Reduzierung Kohls auf dessen Rolle als „Kanzler der Einheit“ gerät vielen allerdings aus dem Blick, was der Historiker Thomas Biebricher treffend als „Entsubstanzialisierung des Konservatismus“ bereits in der Ära Kohl bezeichnet: die „geistig-moralische Wende“ als rein rhetorische Rückkehr zu bürgerlichen Werten.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, was Konservatismus in unserem Land über eine Revision des flüchtlingspolitischen Merkel-Wahnsinns hinaus ausmachen sollte. Eine autoritärere Rechts- und Innenpolitik? Die Rückkehr zum drei-gliedrigen Schulsystem und generell zum Leistungsgedanken? Eine Rückbesinnung auf Tugenden wie Eigenverantwortung und Subsidiarität? Fakt ist: Es gibt nicht den einen Konservatismus. Die Aufsplitterung der CDU in Sozialausschüsse und Frauenunion auf der einen und Mittelstandsvereinigung beziehungsweise Wirtschaftsrat auf der anderen Seite zeugt von dieser Pluralität. 

1972 wurde zu Barzels  Schicksalsjahr

Dennoch, ex negativo läßt sich festhalten, daß es naheliegenderweise nicht als konservativ empfunden wird, politische Grundpositionen aufzugeben, die mit Konservatismus assoziiert werden und die jahrzehntelang zum programmatischen Kernbestand einer Partei gehört haben. In dieser Gemengelage ist bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein eine Sehnsucht nach, sagen wir: zumindest halbwegs prinzipienfesten CDU-Politikern entstanden. Und sei es in Form einer bittersüßen zeitgeschichtlichen Erinnerung. 

Passend dazu hat der Bonner Historiker Kai Wambach nun die Biographie eines zwar bekannten, in puncto zeitgeschichtliche Einordnung allerdings unverbrauchten ehemaligen CDU-Spitzenpolitikers vorgelegt: Rainer Barzel. Auf fast tausend Seiten rekonstruiert, nein, seziert er die Karriere des 1924 im ostpreußischen Braunsberg geborenen und 2006 verstorbenen Christdemokraten in beeindruckendem Detailreichtum. Allerdings räumt Wambach ein, daß sich Barzels Wirken in der öffentlichen und letzten Endes auch in der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung auf ein einziges Jahr verdichtet, auf 1972. Das Jahr, in dem Barzel – in Personalunion Unionsfraktionsvorsitzender im Bundestag, Parteichef und Kanzlerkandidat – in den Blickpunkt der bundesdeutschen Innenpolitik katapultiert wurde. Daß er im April 1972 trotz diverser wegen der sozialliberalen Ostpolitik verärgerter Überläufer Kanzler Willy Brandt nicht über ein Konstruktives Mißtrauensvotum stürzen konnte, hatte einen ebenso simplen wie unappetitlichen Grund. Über die DDR-Staatssicherheit wurden die Stimmen mindestens zweier hochverschuldeter Unionsabgeordneter gekauft. 

Wambach wertet diesen Eingriff in die Geschichte der „Bonner Republik“ als „Gipfel tragischer Dramatik“. Er stuft den mißglückten Kanzlersturz gemeinsam mit der im November 1972 verlorenen vorgezogenen Bundestagswahl als „Bausteine des Scheiterns“ ein. Des Scheiterns eines außergewöhnlich eloquenten Politikers, dem die Springer-Presse bereits 1968 bescheinigt hatte: „Keiner spricht wie Rainer“. Doch Barzels Eloquenz stand sein Image der Unnahbarkeit, der Arroganz, des wenig charismatischen „Computers im Maßanzug“ gegenüber. Ein Image, das bei der Bundestagswahl 1972 gegenüber seinem Kontrahenten Brandt Stimmenverluste der Union vor allem bei Frauen und Jungwählern nach sich zog. Daß Barzel nach der doppelten Schmach des Jahres 1972 nicht mehr zu halten war und 1973 durch Karl Carstens in der Fraktionsführung und seinen Erzrivalen Helmut Kohl im Parteivorsitz abgelöst wurde, überraschte niemanden.

Trotz des abschreckenden Preises, trotz zahlloser Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler und obwohl an Kai Wambach kein eleganter Stilist verlorengegangen ist, lohnt sich die Lektüre des Buches. Der Grund: Es liest sich über weite Strecken wie ein seriös recherchierter Geschichtskrimi. Wer allerdings die eingangs erwähnte Sehnsucht nach einem Konservativen von altem Schrot und Korn stillen möchte, sollte nicht zu Wambachs Biographie greifen. 

Anders als Alfred Dregger oder Franz Josef Strauß, der Barzel als „Flasche“ bezeichnete und den SPD-Fraktionschef Herbert Wehner in der ihm eigenen Feinfühligkeit als den „Öligen“ verspottete, gehörte Rainer Barzel nicht zur „Stahlhelmfraktion“ der Union. Auch für ihn galt: Machtkalkül und programmatische Wendigkeit statt Prinzipientreue. Kein Konservativer also, der diese Bezeichnung verdient hätte. 

Kai Wambach: Rainer Barzel. Eine Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019, gebunden, 985 Seiten, Abbildungen, 98 Euro