© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Zwischen Feder und Glas
Übertriebene Abstinenz tötet jegliche Kreativität
Burkhard Voß

Es kommt nicht darauf an, ob einer gesund oder krank ist, sondern darauf, was er mit seiner Gesundheit oder Krankheit erreicht“, formulierte 1970 Ernst Jünger in „Annäherungen – Drogen und Rausch“. Ein knappes halbes Jahrhundert später würde diesen Satz so rasch niemand aussprechen. Zu groß die Gefahr, als Zyniker zu gelten. Doch Zynismus und Realismus liegen oft ganz nah beieinander. 

Ernst Jünger war in „Stahlgewittern“ und hatte keine posttraumatische Belastungsstörung, er nahm zahlreiche Drogen und wurde nicht süchtig. Wer heute einen Auffahrunfall erleidet, entwickelt schon fast reflexhaft eine Belastungsstörung, wer regelmäßig zwei Flaschen Bier täglich trinkt hat zumindest einen riskanten Alkoholkonsum. Welche Diagnose würde Ernst Jünger unserer Epoche stellen, wenn sie eine Person wäre? Wahrscheinlich narzißtisch akzentuierte Persönlichkeit mit hypochondrischen Anteilen und partiellem Fitneß- und Abstinenzwahn in Verbindung mit Genußphobie bis Genußvermeidungssucht. 

Schiller hielt sich mit Kaffee und Wein wach

Wie will man auch sonst im Neoliberalismus mithalten können? In dieser Epoche ist Abstinenz die Mutter von Optimierung und Fitneß. Originalität und Kreativität sind oft der Preis, den viele dafür gern bezahlen. 

Frühere Persönlichkeiten waren nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. So Friedrich Schiller, der Kaffee und Weißwein im Wechsel trank, um die Nächte durchzuschreiben. Als er 1805 starb, wurde die Oper „Fidelio“ und die Symphonie „Eroica“ in Wien uraufgeführt. Die Kreativität Ludwig van Beethovens hatte ihren Zenit erreicht. Pro Mahlzeit trank er eine Flasche Wein und rückte nach heutigen Maßstäben in die Gruppe des riskanten Alkoholkonsums von 60 bis 80 Gramm reinen Alkohols pro Tag. Daß Leberzirrhose in seinem Obduktionsprotokoll stand, war kein Zufall. Hätte sein Geist über Alkoholfolgeschäden in Abhängigkeit von der täglich zugeführten Menge in Gramm meditiert, ob seine Werke zweieinhalb Jahrhunderte später auch noch die Menschen bewegen würden? 

Ebenfalls 1805 wurde Adalbert Stifter geboren, Dichter, Maler und Vorläufer des deutschen Impressionismus. Gegen seelischen Verfall empfahl er Arbeit und Bildung. Die Darstellung der Menschheit war für ihn ein Widerschein des göttlichen Waltens. Sein Alkoholkonsum belief sich zeitweise auf 620 Liter Wein pro Jahr. 

Im 19. Jahrhundert entfaltete Jean Paul seine schriftstellerische Begabung mit humorvollen Schilderungen des Kleinbürgertums sowie seelischer Vorgänge und wurde zum Lieblingsdichter der intellektuellen Frauenwelt. „Von früh bis spät ist der dicke Mann im Trunk gespannt, doch nicht betrunken“, so eine Professorentochter aus seinem näheren Umfeld. Morgens trinke er Burgunder, danach Bier, den Tee später mische er mit Arrak, und abends trinke er, was der Allmächtige gibt. Und der gab. 

Rudolf Ditzen, der sich später in Hans Fallada umbenannte, wurde 1911 wegen eines inszenierten Doppelmordversuches, bei dem sein Gegner starb, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, begutachtet und wegen Psychopathie und Sucht als unzurechnungsfähig entlassen. Ein Zeitgenosse gab an: „Fallada pflegte schon auf nüchternen Magen vier Gläser Cognac zu trinken, und ohne eine starke Morphium- oder Kokain-Injektion begab er sich nie an die Arbeit.“ Dazu rauchte er eine Unmenge an Zigaretten. Fortan sind seine Themen Mut, Freude, Ratlosigkeit und die Nöte des einfachen Bürgers. In den 53 Jahren seiner Lebenszeit befindet er sich viermal im Gefängnis, dreimal in Nervenheilanstalten und 23mal in Sanatorien. Was ihn nicht davon abhielt, fast 30 Bücher zu schreiben. Ein Ratgeber unter Suchterkrankungen war eigenartigerweise nicht dabei. 

Wie so oft, kommt es auf Menge, Wirkung und Stil des Konsums an. Abstinenz ist langweilig. Gepriesene Abstinenz langweilig und heuchlerisch zugleich. Wie glaubwürdig ist ein Staat, der eine Drogenbeauftragte in seiner Regierung hat und gleichzeitig einen wesentlichen Teil seiner Einkünfte aus dem Handel von Alkohol und Nikotin erzielt? Wieviel Abstinenz, Asepsis und Sterilität verträgt eine Gesellschaft? Der österreichische Philosoph Robert Pfaller prägte einmal den Begriff „faschistoide Gesundheitsmimosen“. Diese freuen sich auf salzfreie Salzkartoffeln zum Silvestermenü im Hotel Adlon. Immer fein artig sein, bloß nicht anecken, nach jedem Essen die Zähne putzen und nach jedem Händeschütteln schön brav die Hände desinfizieren. 

Ernest Hemingway wäre es kotzübel geworden. Er trank drei Flaschen Valpolicella zum Frühstück, zum Warmwerden. Ein Literaturnobelpreisträger, bei dem in diagnostischer Hinsicht zumindest ein Alkoholabusus vorlag, Klassifikation F10.2 nach ICD-10 der Psychischen und Verhaltensstörungen. Auch Suchtmedizin kann manchmal eindimensional sein. 

Wie sagte Harald Juhnke einmal: „Meine Definition von Glück: keine Termine und leicht einen sitzen.“ Erfahrene Suchtmediziner wissen: Einen Hauch inspiriert sein und Termine interessiert wahrnehmen, das ist die Kunst. 






Dr. Burkhard Voß ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Im Solibro Verlag ist 2019 sein Buch„Wenn der Kapitän als Erster von Bord geht“ erschienen.