© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Ein Dresdner Unikum
Zur Soziologie eines Lokalphänomens: Abgehängte demonstrieren nicht
Paul Leonhard

Mehr als fünf Jahre nach der ersten Kundgebung der Dresdner Bürgerbewegung Pegida hat sich das Straßenbild in der sächsischen Landeshauptstadt verändert. In den S-Bahnen und in der Innenstadt sind auffallend viele junge Moslems unterwegs. Waren die Befürchtungen vor zuviel Fremden, die der Bewegung, die sich „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – kurz Pegida – nennt, zeitweise einen starken Zulauf bescherten, doch nicht unbegründet?

Seit dem 20. Oktober 2014 versammeln sich immer montags und damit in der Tradition der DDR-Bürgerbewegung auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche Dresdner, um gegen die Einwanderungs- und Asylpolitik der Regierung zu protestieren.

Vom stetigen Zulauf für Pegida mit zeitweise fünfstelligen Teilnehmerzahlen dürften auch deren „Erfinder“ überrascht gewesen sein. Alles begann mit der Gründung einer geschlossenen Facebook-Gruppe durch den umtriebigen und in Party- und Sportvereinskreisen gut vernetzten Lutz Bachmann, eines mehrfach vorbestraften Mannes mit sicherem Gespür für Populismus. Polemisierte Bachmann an jenem 11. Oktober 2014 vor allem gegen eine am Vortag in der Dresdner Innenstadt stattgefundene Solidaritätskundgebung für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), entstand bald die Idee, selbst in die Öffentlichkeit zu treten, um gegen „die fortschreitende Islamisierung unseres Landes“ und „Glaubenskriege auf unseren Straßen“ zu demonstrieren. Bachmann und elf seiner Freunde bildeten das erste Organisationsteam.

Den ersten Demonstrationen folgte noch 2014 die Gründung eines Vereins mit dem Ziel: „Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit und politischen Verantwortungsbewußtseins“. Gefordert werden Reformen der Familienpolitik und des Bildungs-, Renten- und Steuersystems, der „Schutz, Erhalt und respektvolle Umgang mit der deutschen Kultur und Sprache“, die Ablehnung von Freihandelsabkommen wie TTIP sowie die sofortige Abschiebung abgelehnter Asylbewerber.

Entfremdung zwischen Teilnehmern und Medien

Angesichts linksextremistischer Aktionen gegen Pegida ordneten die meisten Medien die neue Bewegung prompt als islam- und fremdenfeindliche, völkische, rassistische und rechtspopulistische Organisation ein. Journalisten seien mit dem plötzlichen Auftauchen einer „nennenswerten nicht-linken sozialen Bewegung“ überfordert gewesen, „welche jene Narration und Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung in Frage stellte, die inzwischen als Normalität betrachtet wird“, konstatierte der Dresdner Politikwissenschaftler Joachim Klose.

Die als einseitig empfundene Berichterstattung führte zu völliger Entfremdung zwischen Demonstranten und Medien. Um nicht durch mißverständliche Äußerungen in eine extremistische Ecke gedrängt zu werden, wurde von Pegida-Sprechern dazu aufgerufen, schweigend zu demonstrieren, keine Parolen zu rufen und keine Interviews zu geben. Diesem kam die Mehrheit der Pegida-Sympathisanten auch gegenüber Wissenschaftlern nach, die die soziale Zusammensetzung erkunden wollten.

Auch wenn mangels ausreichender Antworten keine einzige der Studien, die 2015 erstellt wurden, als repräsentativ gilt, lautet das Fazit: Der durchschnittliche Teilnehmer kommt aus der sächsischen Mittelschicht, ist männlich, 48 Jahre alt, zumeist konfessionslos, nicht parteigebunden, gut ausgebildet, berufstätig und verfügt über ein für Sachsen etwas überdurchschnittliches Nettoeinkommen – und er ist mit der Politik unzufrieden. Über 80 Prozent der Befragten fürchteten mehr als anderes den „Verlust nationaler Identität und Kultur“, über 90 Prozent bejahten die Demokratie gegenüber anderen Staatsformen „sehr“ oder „ziemlich“. Wäre im Januar 2015 Bundestagswahl gewesen, hätten 89 Prozent der Befragten AfD gewählt. Die Kundgebungen seien für die meisten eine Ausdrucksmöglichkeit für tief empfundene, bisher nicht öffentlich ausgesprochene Ressentiments gegenüber den Eliten, so der Politikwissenschaftler Hans Vorländer.