© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Schwadronieren und Daumenschrauben
Brexit: Für den vollen EU-Binnenmarktzugang müßte Großbritannien weiter das meiste EU-Recht umsetzen, ohne aber länger mitentscheiden zu können
Albrecht Rothacher

Wie im Privatleben gibt es auch in der Politik selten faire Scheidungen. Bis Jahresende soll nach dem Brexit das wirtschaftliche Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien per Freihandelsvertrag geregelt werden. Keine elf Monate sind mehr Zeit, doch bislang haben sich die 27 EU-Staaten auf keine Verhandlungslinie verständigt. Der Sondergipfel zum neuen EU-Budget könnte einen Durchbruch bringen. Der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) der EU soll bis April stehen. Großbritannien war 2018 mit umgerechnet 6,95 Milliarden Euro der zweitgrößte EU-Nettozahler.

Premier Boris Johnson hofft auf ein Abkommen nach dem Vorbild von Ceta, das seit 2017 den Handel zwischen der EU und Kanada regelt und vereinfacht. Der deutschen Wirtschaft wäre ein Vertrag wie mit Norwegen oder der Schweiz lieber. Beide Länder zahlen für die Teilhabe am EU-Binnenmarkt dreistellige Millionenbeiträge. Sie müssen EU-Recht nachvollziehen und EU-Bürgern Freizügigkeit gewähren.

Das Europaparlament (EP) forderte mit einer Dreiviertelmehrheit von Christdemokraten, Liberalen, Sozialisten, Grünen und Linken ein Abkommen, das den Briten die Übernahme von Umwelt-, Sozial- und Wettbewerbsnormen auferlegt. Das EP will Zugang zu den britischen Fischgründen und den Schutz der Aufenthaltsrechte von EU-Bürgern. Ein „Singapur in der Nordsee“ mit Steuerdumping dürfe es nicht geben. Auch bei der CO2-Bepreisung oder dem Datenschutz könne es keine Ausnahmen geben – sonst drohten Zölle und Importquoten für „Made in UK“. Die können aber all das nicht mehr direkt mitentscheiden – in Summe wäre der von Johnson grandios durchgesetzte Brexit schließlich ad absurdum geführt.

Kein Zweifel, die EP-Mehrheit will Wackelkandidaten und Euro-Verweigerer abschrecken: Dänemark war 2018 mit 207 Euro pro Kopf der größte EU-Nettozahler. Schweden lag mit 149 Euro knapp hinter Deutschland und Österreich. Selbst in der Tschechei – 2018 mit 2,4 Milliarden Euro EU-Nettoprofiteur – gibt es Anhänger eines „Czexit“. Natürlich kann der Europäische Rat in Gestalt der 27 Regierungschefs die EP-Forderungen ignorieren. Doch müssen die 705 Parlamentarier im Ratifizierungsverfahren dem Post-Brexit-Vertrag mit den Briten mehrheitlich zustimmen.

Industriearbeitsplätze stehen auf dem Spiel

Es gibt zudem eine EU-Ratsvorlage, die für den Austrittsdeal die Einstimmigkeit vorsieht: Jeder Mitgliedsstaat kann das Abkommen zu Fall bringen. Die Spanier wegen Gibraltar und dem Zugang zu britischen Fischereizonen, die Iren wegen „ihrer“ Provinz Ulster (Nord­irland), die Polen wegen der Gastarbeiter in England und die Franzosen, weil sie das Finanzgeschäft der Londoner City nach Paris exportieren wollen. Die Aufgabe des erfahrenen EU-Chefverhandlers Michel Barnier ist gewaltig. Es hilft auch nicht, daß britische Diplomaten jetzt die Anweisung erhielten, sich bei internationalen Konferenzen möglichst weit weg von der verhaßten EU zu plazieren. Boris Johnson schwadroniert als Alternative von einem Deal à la Australien. Dabei gibt es bislang nur einzelne Verträge zwischen Brüssel und Canberra. Ein EU-Australia Trade Agreement ist erst seit 2018 in der Verhandlung. Bislang läuft der bilaterale Handel nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO).

Die britischen Importe aus der EU beliefen sich 2018 auf 357 Milliarden Pfund (53 Prozent aller britischen Einfuhren). Der Anteil der britischen Exporte in die EU ist sogar zwischen 2006 und 2018 von 55 auf 45 Prozent (291 Milliarden Pfund) gesunken. Dieses 66-Milliarden-Defizit ergab sich aus einem Warenhandelsdefizit von 94 Milliarden und einem Überschuß von 28 Milliarden beim Handel mit Dienstleistungen. Im Handel mit den Nicht-EU-Ländern erwirtschafteten die Briten hingegen ein 29-Milliarden-Plus.

Sprich: Beim Export von Autos oder Lebensmitteln haben die EU-Länder viel zu verlieren – beim Dienstleistungssektor besteht bei den Briten ein Einigungsinteresse. „Ich halte es für einen schweren Fehler, daß die britische Regierung die Verlängerung der Übergangsphase kategorisch ausschließt“, warnt Joachim Lang, Geschäftsführer des Industrieverbands BDI. Aber „wer von EU-Regeln abweichen will, der darf nicht den besten Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt bekommen“. Doch Deutschland muß einen harten Brexit verhindern: Waren für 78,7 Milliarden Euro lieferten deutsche Firmen 2019 auf die Britischen Inseln – es war ihr fünftgrößter Exportmarkt. Im Gegenzug kamen nur Waren für 38,3 Milliarden Euro hier an.

460.000 hochwertige Industriearbeitsplätze stehen auf dem Spiel, hauptsächlich in NRW. Nach drei Jahren Brexit-Spaß sollte jetzt Schluß mit lustig – in London, Brüssel und Straßburg.


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