© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Wenn die Steine weinen und tanzen
Bartlose Männer und eine bärtige Frau: Die italienische Mezzosopranistin Cecilia Bartoli gibt dem Kastraten Farinelli seine Arien zurück
Jens Knorr

One God, one Farinelli!“, soll eine gewisse Lady Rich ausgerufen haben, hingerissen von des Kastraten Farinelli Gesang, als der 1734 sein Londoner Bühnendebüt in Hasses Opera Seria „Artaserse“ gab. Der Ausruf selbst ist Anekdote und vielmehr durch einen Hogarthschen Kupferstich aus dem Zyklus „A Rake’s Progress“ überliefert. Dort stellt der Maler den Sänger als Achill in „Ifigenia in Aulide“ als einen, so der Literaturwissenschaftler Torsten Flüh, „qua Stimme und Rolle aus sich selbst heraus zum neuen Gott einer Ideologie des Machbaren“ Gewordenen dar – und auf ein Piedestal.

In der Aufführung dieser Oper von Porpora am King’s Theatream Haymarket hatte Farinelli einen seiner größten Erfolge gefeiert. Indem Achill sich gegen die Götter empört, wird er selbst den Göttern gleich. Die Stimme des Kastraten ist nicht mehr Ersatzlösung für die verbotene Frauenstimme, wie noch bei Monteverdi, sondern die Stimme männlicher Empathie und männlichen Ringens um Gefühlskontrolle geworden, die Stimme des bürgerlichen Helden im ausgehenden feudalen Zeitalter, heiße er Epitide, Nino, Farnaspe oder Abel – Partien, die der Sopranist Farinelli sang und deren Arien Cecilia Bartoli, die Mezzosopranistin, singt. Freilich war der Kontrollgewinn mit Kontrollverlust erkauft: der neue Mann hatte keine Eier.

Es wurden unzählige Jungen verstümmelt, viele starben

Vor zehn Jahren hatten Cecilia Bartoli und Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini für ihr Projekt „Sacrificium“ das Jahrhundert der Kastraten ausgeforscht, insbesondere die neapolitanische Sängerschule des Komponisten, Pädagogen und Impresario Nicola Porpora (JF 50/09). Ihr neues Projekt, „Farinelli“, kann gut als unspektakuläre Fortsetzung dieses Projektes gehört werden. Vielen mag der Name durch Corbiaus Film geläufig geworden zu sein, der jedoch mit dem historischen Carlo Maria Michelangelo Nicola Broschi (1705–1782), genannt Farinelli, ungefähr so viel zu tun hat wie Peter Shaffers Stück und Miloš Formans Film „Amadeus“ mit dem historischen Mozart. Der hat sich übrigens niemals „Amadeus“ genannt.

Broschis Lebensweg vom Sohn aus niederem Adel über den Gesangsstar zu einem epochemachenden Künstler, dessen Stationen im Beiheft übersichtlich nachvollzogen werden, ist einer von den helleren Lebenswegen in der dunklen Geschichte des Kastratengesangs: Weil die Frau in der Versammlung schweigen solle, sollte sie in der Kirche auch nicht singen, und, wäre es nach Papst Clemens IX. gegangen, auch nicht im Theater. Zwar nahm auch zu früheren Zeiten die Kraft päpstlicher Edikte mit der Entfernung ihrer Adressaten vom Kirchenstaat ab, doch selbst dort, wo an brauchbaren Sopran- und Altstimmen im Knabenalter kein Mangel war, setzte man hemmungslos genuß-, sex-, und profitsüchtig zum Schnitt an, um seinen Schnitt zu machen. Insbesondere während des 17. und 18. Jahrhunderts wurden unzählige Jungen verstümmelt – einige Quellen sprechen für den Anfang des 18. Jahrhunderts von 3.000 bis 4.000 Fällen Jahr für Jahr –, viele starben oder trugen schwere gesundheitliche Schäden davon, wurden gesellschaftlich geächtet, in die Prostitution getrieben. Die wenigsten erhielten die ersehnte Ausbildung, die allerwenigsten machten Karriere. Farinelli bestätigt die Regel insofern als Ausnahme, weil der Knabe erst kastriert wurde, wohl im Alter von neun oder zehn Jahren, nachdem sich sein überragendes musikalisches Talent erwiesen hatte.

Gefördert von den wohlhabenden Farina-Brüdern, zwei Anwälten aus Neapel, erhält er am Conservatorio Sant’Onofrio und schon bald als Privatschüler des Komponisten und Gesangslehrers Nicola Porpora umfassende Ausbildung, zu der neben Gesangstechnik auch Kompositionslehre, Sprachen und Literatur gehören. Er debütiert im Alter von 15 Jahren, sein Aufstieg ist rasant, sein Ruhm verbreitet sich schnell über Italien hinaus, er singt in Wien, Paris, dann auch in Porporas Londoner Operngesellschaft, die der Händelschen Konkurrenz macht, was schließlich beide in den Ruin treibt.

Ab 1737 wird Farinelli von Königin Elisabeth von Spanien an den spanischen Hof nach Madrid engagiert. Sie verspricht sich von seinem Gesang Heilung für die „Melancholie“ ihres Ehemanns, Philipp V. Der Vertrag verbietet dem 32jährigen Farinelli weitere öffentliche Auftritte. Unter Ferdinand VI. wird er Leiter der italienischen Oper, unter Karl III. pensioniert und aus Spanien ausgewiesen. Seinen Lebensabend verbringt Farinelli ab 1761 in Bologna, geehrt und verehrt.

Lassen wir die zu Mythen geronnenen Anekdoten seines Lebens beiseite. Der Faszination eines Farinelli können wir ohnehin nur in Aufnahmen der für ihn komponierten Arien und ganzen Opern nachhören, die sowohl von Sängerinnen als auch von Sängern seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wiederentdeckt und eingespielt wurden. Sie sind ohne den Aufschwung historisch informierter Aufführungspraxis nicht denkbar, die aus einem Nebenfach für Spezialisten in die Mitte der klassischen Musikausübung, in die Konzert- und Opernhäuser, Ausbildungsstätten und Netzpodien rückte. Dieser Aufschwung koinzidiert nicht zufällig mit gesellschaftlichen Entwicklungen.

In den 1970er Jahren war das Kapitalozän, das Erdzeitalter des Kapitals, in eine Phase eingetreten, die Francis Fukuyamas Schlagwort vom Ende der Geschichte, sofern es auf die des Kapitalozäns selbst bezogen bleibt, durchaus treffend benennt. Staatsversagen und Marktversagen wurden identisch, die Peripherie arbeitete sich in die kapitalistischen Zentren vor, und die Welt erlebte den unaufhaltsamen Aufstieg des „autoritären Liberalismus“ (Grégoire Chamayou). Das Ancien régime, versteinerte und zugleich bröckelnde Verhältnisse in rasendem Stillstand begriffen – da schlägt die Stunde der Barockoper. Die Ablösung des fordistisch konditionierten durch den postfordistisch konditionierten Mann – da schlägt die Stunde der neuen Countertenöre.

Bei den Schrittmachern dieser Art des Singens, von Alfred Deller bis zu Jochen Kowalski, war das gesellschaftliche Hintergrundrauschen immer doch spürbar, ein Aufbegehren gegen Unverständnis, Spott und Ranküne ihrem Singen, ein verzweifeltes Rütteln an Hierarchien, innerhalb deren sie steigen oder sinken konnten, nicht aber diese verändern, geschweige denn einreißen, ihren Bühnenrollen eingebrannt. Das scheint ihren heutigen Nachfolgern, die ihre Kopfstimme zu Markte tragen, ganz verloren. Sie heben ein um das andere Werk, die herrlichste Musik auf die dämlichsten Libretti, aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit und führen es dem Markt zu. In demselben Maße, wie sie ihre Wiederentdeckungen für die Verwertungsketten optimieren, optimieren sie auch sich selbst. Sie sind fit und viril, feinfühlig und scheu, gescheit und offen für alles neue Alte: kopfstimmige Poster-Boys der Musikindustrie.

Für jede Arie sucht sie die richtige Stimme zu finden

Da grätscht ihnen Cecilia Bartoli zwischendrein. Lassen die meisten Falsettisten, Altisten wie Sopranisten, ihre Arbeit als leichtes Spiel, quasi „gamifiziert“, erscheinen, so sind aus den Interpretationen der Bartoli die Spuren des Erlittenen und Erschufteten nicht getilgt. Die Bartoli besteht darauf, daß der Gender Trouble der Barockoper kein kokettes Spiel mit Geschlechtsidentitäten oder Geschlechterrollen und Geschlecht darin keine „performative ‘Spielmarke’“ (Thomas Meyer) vorstellt.

Gewiß lassen sich im Vortrag der 53jährigen immer auch die allbekannten, monierten und neuerdings sogar parodierten manieristischen Elemente wiederfinden. Aber viel wichtiger scheint mir, daß in ihrem Singen die verstümmelten Körper, über die alle Machtkämpfe und Intrigen der Barockoper ausgetragen wurden, nicht vergessen, sondern aufgehoben sind. Nehmen sich die neuen Falsettisten ihre Stimmen von den Kastraten, gibt die Bartoli den Kastraten eine Stimme: ihre. Und – auf den Photographien im Beiheft – den Bart dazu, der ihnen nie sprießen konnte. Sie paßt nicht die Arien von Hasse, Caldara, Giacomelli, Riccardo Broschi, dem Bruder Farinellis, und selbstverständlich von Porpora ihrer Stimme an, sondern sucht für jede Arie, für jeden Ausdruck die einzig richtige, die wahre Stimme zu finden.

Gegen „La Ceci“ sind all die neuen Falsettisten, so hart wie smart sie sich auch geben mögen, doch Weicheier. Sie singt, daß der Putz von der Decke fällt und daß die Steine weinen und tanzen. One goddess, one Bartoli!