© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Personen werden ausradiert
Gezielte Löschaktionen bei Facebook: Namen wie Martin Sellner oder Tommy Robinson verschwinden
Gil Barkei

In George Orwells dystopischem Roman „1984“ arbeitet Hauptfigur Winston Smith in der „Dokumentations-Abteilung“ im „Ministerium für Wahrheit“. Seine Aufgabe ist es, unliebsame Begriffe und Ereignisse aus den Presseerzeugnissen und deren Archiven umzuschreiben und zu löschen – was den Machthabern nicht paßt, soll schlicht nie existiert haben.

Im Hier und Jetzt verschwinden Begriffe und Namen aus dem digitalen Gedächtnis der sozialen Medien. Sie werden bei Facebook einfach ausradiert, so als ob es sie nie gegeben hätte. Davon betroffen: Martin Sellner, Tommy Robinson und die Identitäre Bewegung (IB). Seit einigen Wochen häufen sich die Berichte, wonach Beiträge und Videos, in denen die Namen vorkommen, systematisch gesucht und gelöscht werden. Und das unabhängig davon, ob die Inhalte diese Personen und Organisationen in einem positiven, kritischen oder neutralen Kontext erwähnen.

Seit September hat das Online-Netzwerk auch zehn Beiträge der JUNGEN FREIHEIT gelöscht, in denen der Leiter der Identitären Bewegung Österrreichs oder die IB selbst erwähnt wurden – neun allein seit Beginn des neuen Jahres. Die knappe, keine detailliertere Auskunft gebende Begründung: „Der Beitrag verstößt gegen unsere Gemeinschaftsstandards“ – manchmal mit den Ergänzungen „zu Haßrede“ oder „zu gefährlichen Personen oder Organisationen“. Bei den Inhalten handelte es sich um Verlinkungen zu Artikeln von JF-Online mit jeweils einem kurzen Teaser. 

Schnüffeln in der Netz-Vergangenheit

Für Martin Sellner, dessen Facebook- und Instagram-Profile schon vor Jahren einfach abgeschaltet wurden, stellt Mark Zuckerbergs Netzwerke-Imperium immer noch eine „wichtige Plattform“ dar, die für ihn allerdings eine „digitale Nogo-Area“ sei. Gerade als Medienmacher und Aktivist sei das „selbstverständlich ein tiefer Einschnitt“, da die Netzwerke „eine Monopolstellung haben und für jedes politische oder wirtschaftliche Fortkommen unerläßlich sind“. Jetzt gehe man aber offenbar „noch weiter und will sogar unterbinden, daß andere Dinge über mich posten“, sagt er der JF. Betroffen seien „Posts mit meinem Nachnamen“ sowie „Links meiner Videos und Internetseiten“.

Auffällig an Facebooks Vorgehen gegen den JF-Account: viele der von dem US-amerikanischen Internetunternehmen zensierten Berichte liegen mehrere Jahre zurück. Facebook schnüffelt also gezielt in der Vergangenheit der Netz-Historie. So stammen der erste, aber auch andere beanstandete Beiträge aus dem Sommer 2017, als die IB im Zuge ihrer Mission „Defend Europe“ mit einem eigens gecharterten Boot im Mittelmeer auf die Schleppertätigkeit mehrerer Nichtregierungsorganisationen aufmerksam machte. 

Weitere gekappte Weiterleitungen stammen aus den Jahren 2018 und 2019. Der zuletzt gelöschte Beitrag ist gar vom 8. März 2013 und stellt lediglich ein Bildschirmfoto und einen Link der 3sat-Sendung „Kulturzeit“ dar, auf dem das Logo der Identitären Bewegung zu sehen ist.

Betroffen sind Kommentare (unter anderem von Chefredakteur Dieter Stein), Interviews und schlichte Nachrichtenmeldungen mit unverfänglichen sachlichen Teasern wie beispielsweise diesem: „Die Identitäre Bewegung Deutschland hat Vorwürfe zurückgewiesen, sie habe Parteien und Redaktionsräume attackiert. ‘Von einem Angriff oder gar einer Attacke zu sprechen wegen ein paar Plakaten, einem Banner und einem abgeladenen Steinhaufen, stellt eine unfaßbare Übertreibung dar’, sagte ein IB-Sprecher der jungen freiheit.“ Für Facebook eine Wortwahl, die gelöscht gehört.

Sellner, der auch bei über zwei Dutzend (Online-)Banken und Zahlungsdienstleistern gesperrt ist, sieht in dieser Praxis eine „digitale Vaporisierung“. Man versuche ihn „aus dem Bewußtsein der Menschen zu löschen“. Dies funktioniere „aber Gott sei Dank nicht, da die Leute auf freie Plattformen wie Telegram kommen“.

Die JF hat gegen alle Löschungen auf ihrem Profil Einspruch über das Beschwerdeformular bei Facebook eingelegt. Ohne weitere genaue Erläuterungen wurden daraufhin vier Beiträge wieder freigeschaltet. Eine Entscheidung steht noch aus. Die beibehaltenen Löschungen haben Nutzer nach einmaligem Widerspruch und dessen instransparenter Bearbeitung zu akzeptieren. Die Fälle werden als „Geschlossen“ angezeigt; anonyme Mitarbeiter eines ausländischen privaten Tech-Unternehmens als Ermittler und Richter über die Meinungsfreiheit. Eine Erklärung, welche Formulierung oder welches Wort ein Problem darstellte, blieb in allen Fällen aus. Stattdessen hieß es lediglich: „Es tut uns leid, daß wir das falsch verstanden haben. Wir haben deinen Beitrag noch einmal geprüft und bestätigt, daß er unseren Gemeinschaftsstandards entspricht.“ 

Betroffen von der Willkür ist nicht nur die JF. Anfang Dezember hatte der Medienanwalt Joachim Steinhöfel mit seinem Fonds „Meinungsfreiheit im Netz“ vor dem Landgericht Berlin eine von mehreren Einstweiligen Verfügungen gegen Facebook erstritten (JF 51/19). Das Gericht sah es als glaubhaft an, daß das soziale Netzwerk Beiträge, in denen der britische Aktivist Tommy Robinson vorkommt, systematisch streicht. Steinhöfel spricht im Interview mit JF-TV von „automatisierten“ Löschungen „bestimmer Namen“, die „auf einer Liste bei Facebook stehen müssen“. Er fordert: „Die Namen muß man nennen dürfen. Man kann die Personen ja kritisieren und sagen: ‘Ein übler Rechtspopulist und Hetzer, dieser Sellner’. Das geht auch nicht, der Name fliegt raus. Das sind Geschichten, da bleibt einem die Spucke weg.“ Namen zu eliminieren, das sei „ein unglaublicher Vorgang“.

Medienanstalten fordern mehr Regulierung

Ähnliche Erfahrungen hat auch – etwa zur gleichen Zeit der ersten Löschung eines JF-Beitrags – der patriotische Blog younggerman.com gemacht. Wie Betreiber Ferdinand Vogel der JF erzählt, gab es Ende September 2019 „drei Löschungen verfaßter oder lediglich geteilter Inhalte“ mit Bezug zum alternativen US-Medium Breitbart oder zu Tommy Robinson. 

Eine JF-Anfrage zu den Hintergründen des auffälligen Aktionismus, zu betroffenen Personen, zu vermeintlich eingesetzten KI-Algorithmen und zu den rechtlichen Grundlagen dieser Eingriffe in die Pressefreiheit ließ Facebook wie gewohnt (JF 21/19) unbeantwortet. 

Ungeachtet dessen zeigen sich mehrere Landesmedienanstalten nicht zufrieden mit den Selbstverpflichtungen der sozialen Netzwerke im Kampf gegen „Desinformation“. In einer Untersuchung für die EU-Kommission kommen die Medienanstalten von Bayern, Berlin-Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zu dem Ergebnis, daß die Selbstregulierungen von Facebook, Twitter und Youtube bisher „weder effektiv noch verhältnismäßig“ seien – insbesondere bei politischen Anzeigen und Botschaften wie Zitatetafeln. Der Direktor der Landesanstalt für Medien Nord­rhein-Westfalen, Tobias Schmid, spricht sogar von einem „Systemversagen“. Damit sind jedoch nicht die Einschränkungen der Meinungsfreiheit gemeint, vielmehr empfehlen die Verantwortlichen eine noch stärkere Regulierung. 

Unterstützung erhalten die Medienanstalten vom Deutschen Journalisten-Verband (DJV). Daß die Forderung nun auf „höchster europäischer Ebene angekommen ist“, unterstreiche die „Dringlichkeit“, und es bleibe zu hoffen, „daß nicht Jahre vergehen, bis aus Europa wirksame Regeln kommen“, schreibt Pressesprecher Hendrik Zörner in einem Beitrag auf dem DJV-Blog. Facebook betont indes, es wolle sich „aktiv einbringen“, da gesetzliche Vorgaben „notwendig“ seien.