© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Antisemitismus und Volksgemeinschaft
Mit der Verkündung des Parteiprogramms wurde 1920 die Umbenennung der DAP zur NSDAP eingeleitet
Karlheinz Weißmann

Der 24. Februar bildete den Ausgangspunkt des nationalsozialistischen „Feierjahres“. Dessen Ablauf legte das NS-Regime fest, um dem Volk die Höhepunkte in der Geschichte der „Bewegung“ einzuprägen. So auch jenen Tag im Jahr 1920, als die Deutsche Arbeiter-Partei (DAP) eine Massenversammlung mit mehr als 2.000 Teilnehmern im Münchener Hofbräuhaus durchgeführt hatte. Der Zweck war, die „25 Punkte“ vorzustellen, die der DAP-Vorsitzende Anton Drexler zusammen mit dem „Werbeobmann“ Adolf Hitler erarbeitet hatte und die in Zukunft die politische Linie der Partei bestimmen sollten.

Die ersten neun der „25 Punkte“ enthielten das nationale Programm (Aufhebung des Versailler Vertrages, Bildung eines großdeutschen Staates, Ausgliederung der Juden aus der Gemeinschaft der Staatsbürger), die folgenden 13 Punkte das sozialistische Programm („Brechung der Zinsknechtschaft“, Verstaatlichung von bereits vergesellschafteten Konzernen, Schutz des Mittelstandes, Bodenreform, Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Großbetrieben, Chancengerechtigkeit im Bildungswesen, Hebung der Volksgesundheit, allgemeine Wehrpflicht) der Partei. Die in Punkt 23 geforderte Säuberung der Presse und das in Punkt 24 formulierte Bekenntnis zur Religionsfreiheit (sofern die Religion nicht staatsfeindlich war oder „gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse“ verstieß) unter besonderer Würdigung des „positiven Christentums“ hatten den Charakter von Zusätzen, während in Punkt 25 wenigstens andeutungsweise eine Staatsvorstellung erkennbar wurde. Dort hieß es: „Zur Durchführung alles dessen fordern wir: Die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches. Unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über das gesamte Reich und seine Organisationen im allgemeinen. Die Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten.“

Zwar wurde an anderer Stelle – unter Punkt 6 – gegen die „korrumpierende Parlamentswirtschaft“ polemisiert, aber es war an den „25 Punkten“ noch nicht erkennbar, daß die DAP einen Sturz der bestehenden Staatsordnung plante. Der Leser des Programms mußte eher den Eindruck haben, daß man eine Art völkischer Umgründung plante, womit sich die Partei nicht wesentlich von ähnlichen Gruppierungen unterschied, die in der Zeit kurz vor oder kurz nach der Novemberrevolution entstanden waren. 

Sie verband die Ablehnung der alten Monarchie wie der neuen Republik. Die eine hatte davor versagt, Deutschlands Größe zu erhalten, die andere war außerstande, sie wiederherzustellen. Angesichts dessen schien es notwendig, zuerst die Bevölkerung – insbesondere die Arbeiterschaft – für den nationalen Gedanken zurückzugewinnen und eine Massenorganisation zu schaffen, die, straff geführt, die Basis für ein Wiedererstarken Deutschlands bilden sollte.

Das würde sich dann entschlossen gegen seine äußeren wie seine inneren Feinde wenden. Als äußere Feinde galten selbstverständlich die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, aber auch der mit Revolution drohende Bolschewismus. Ob mit dieser Wendung gegen den Sowjetstaat auch das russische Volk gemeint war, blieb vorerst unentschieden; Hitler selbst hat bis 1920 an ein Bündnis mit den „Weißen“ gedacht, um den Bolschewismus zu bekämpfen. Davon unabhängig wurden Kommunisten in Deutschland grundsätzlich als Gegner betrachtet. Was nicht zuletzt damit gerechtfertigt wurde, daß der Kommunismus als „Mache“ galt. Das heißt, er galt wie die parlamentarische Demokratie als Maske des Judentums, dessen es sich bediente, um die „Arier“ zu unterjochen und die Weltherrschaft zu erringen.

Vom Parteiprogramm ging wenig Anziehungskraft aus

So viel man von antisemitischer Agitation in der ersten Nachkriegszeit erhoffen durfte, hatte sich doch gezeigt, daß ein in erster Linie negatives Programm kaum geeignet war, Menschen auf Dauer zu gewinnen. Und wenn Hitler später in „Mein Kampf“ behauptete, daß durch die „25 Punkte“ ein „Feuer … entzündet“ worden sei, „aus dessen Glut dereinst das Schwert kommen muß, das dem germanischen Siegfried die Freiheit, der deutschen Nation das Leben wieder gewinnen soll“, so ist doch festzustellen, daß die eigentliche Anziehungskraft der wenige hundert Mitglieder umfassenden DAP kaum aus ihrem Programm zu erklären war. Die hatte vielmehr mit der Verwendung einer Formel zu tun, die weder Hitler noch Drexler erfunden hatten, die sie sich aber geschickt zunutze machten.

Das erklärt, warum kurz nach der Verabschiedung des neuen Programms die Umbenennung der DAP in „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ erfolgte. Der Begriff „Nationalsozialismus“ war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr neu. Teilweise hatte er seine Anziehungskraft schon vor dem Krieg entfaltet, zuerst in den Ländern der Habsburger Monarchie, aber auch in Frankreich, Italien und Großbritannien. 

Durch die andauernde Bedrohung, die wirtschaftliche Not und die Niederlage erhielt die Forderung nach einem „nationalen“, „deutschen“ oder „preußischen Sozialismus“ in Deutschland aber eine besondere Plausibilität. „Nationalsozialismus“ wurde jetzt als Bezeichnung für ein neues politisches Projekt verstanden, das zum Ziel hatte, den Klassenkampf zu beenden, die „Volksgemeinschaft“ dauerhaft zusammenzuschließen und gegen jeden zu wenden, der sie gefährdete. Daß es Hitler, der im Laufe des Jahres 1920 Drexler nach und nach beiseite drängte, gelang, den Begriff immer enger und ausschließlicher mit der NSDAP zu verbinden, sollte sich zwar nicht sofort, aber auf längere Sicht als entscheidender propagandistischer Schachzug erweisen.