© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

„Symptom einer Gesellschaftskrise“
Was trieb den Attentäter von Hanau tatsächlich? Ist die AfD schuld an seinem Amoklauf? Was erlebt Deutschland seit dem Tag der Tat? Fragen an den Psychiater und Publizisten Hans-Joachim Maaz
Moritz Schwarz

Herr Dr. Maaz, der Hanauer Attentäter glaubte, bereits bei seiner Geburt von einem allmächtigen Geheimdienst manipuliert zu werden. Woher kommt so eine Idee? 

Hans-Joachim Maaz: Offenbar litt er an einer chronischen Psychose, also einer schweren seelischen Erkrankung. Jedoch muß ich einschränken, daß alles, was ich im Folgenden sage, unter dem Vorbehalt steht, Ferndiagnose zu sein – basierend auf Lektüre seines Manifests. Eine verläßliche Diagnose setzt dagegen eine intensive persönliche Untersuchung voraus, die jedoch mit dem Tod des Täters nicht mehr möglich ist. Sein Manifest (Seite 7) aber verrät klar paranoide, also wahnhafte Einbildungen von Überwachung und „Fernsteuerung“. Er hörte Stimmen, sprach mit unsichtbaren Menschen, glaubte, Hollywood drehe Filme nach Ideen, die man ihm aus seinem Gehirn geklaut habe. Er scheint eine schwere Schizophrenie gehabt zu haben. 

Was bedeutet?

Maaz: Daß er dringend ärztlicher Hilfe bedurft hätte, und bei diesem Schweregrad sowohl medikamentöser wie sozio- und psychotherapeutischer Behandlung. 

Offenbar hat er sich nur bei einem Hellseher um Hilfe bemüht, nicht bei einem Arzt. 

Maaz: Das ist ein großes Problem, solche Menschen dazu zu bringen, sich in Behandlung zu begeben, da oft keine Krankheitseinsicht besteht. 

Muß Schizophrenie unbehandelt so enden? 

Maaz: Nein, ihr Verlauf ist oft schwankend und er kann sich insgesamt verstärken, aber auch abschwächen und muß keineswegs zu Gewalt führen. Interessant ist, daß der Täter offenbar dreimal bei der Polizei war, Anzeige gegen seine angebliche Beobachtung zu erstatten, jedesmal aber weggeschickt wurde. Dabei ist das ein klarer Hinweis auf eine Störung, um die man sich kümmern muß! Der richtige Umgang mit solchen Fällen sollte in die Ausbildung der Polizei aufgenommen werden, etwa die Einschaltung des Amtsarzts. In diesem Fall hätte das eventuell elf Menschen das Leben retten können!

Bereits im November hat die Generalbundesanwaltschaft eine Kurzversion des Manifests vom Täter zugeschickt bekommen. Diese soll zwar nicht die Vernichtungsideen enthalten haben, wohl aber seine rassistisch-chauvinistischen Ansichten und die Wahnvorstellungen. Man reagierte nicht.

Maaz: Das ist ein doppeltes Versagen der Behörden: Rassistisch-chauvinistische Ansichten hätten eine Beobachtung verlangt mit der Klärung, ob strafrechtliches Verhalten vorliegt. Und Wahnvorstellungen erfordern zwingend eine amtsärztliche Klärung, ob eine Selbst- oder Fremdgefährdung gegeben ist.

Trägt die Behörde damit eine Mitschuld?

Maaz: Es ist auf jeden Fall kritikwürdiges Verhalten, das Klärung verlangt. Und falls seine wahnhafte Erkrankung bekannt war, ist die politische Instrumentalisierung eine besondere Verantwortungslosigkeit, die öffentlich nahezu Klarstellung und Entschuldigung durch Behörde und politisch Verantwortliche erfordert.

Nun wird im Netz spekuliert, die Reaktion sei unterblieben in der Hoffnung auf einen Anschlag, der dann eine breite Anti-AfD-Stimmung erzeuge.

Maaz: Auch Behördenversagen sollte nicht politisch mißbraucht werden. Eine irrationale Verschwörungstheorie, für die keine Belege erbracht werden, ist Öl ins Feuer der Gesellschaftsproblematik und muß zurückgewiesen werden! Meine Sorgen betreffen die wachsenden feindseligen Vorwürfe und Verdächtigungen von und nach allen Seiten. Da ist keine Position besser, wenn das Gespräch, der Diskurs ausgeschlossen wird. Beschimpfungen verbessern gar nichts, aber verschlimmern alles.

Was könnte die Krankheit ausgelöst haben?

Maaz: Wir kennen die eigentlichen Ursachen der Psychose bis heute nicht. Manche lassen sich zwar erklären, andere aber nicht. Auf jeden Fall ist sie ein komplexes Geschehen, bei dem Genetik, hirnorganische Veränderungen, aber auch äußere Faktoren, Trauma, Kränkung, sozialer Streß etc. eine Rolle spielen können. Wie läßt sich der Verfolgungswahn dieses Täters erklären? Denkbar wäre eine starke Einschränkung durch die Eltern in der Kindheit – in Form von Bedrohung, Einschüchterung, abnormen Forderungen –, die das Gefühl gab, kein eigenes Leben zu haben. Doch ist das Spekulation.

Woher kommt ein Größenwahnsinn, wie als Vordenker des US-Präsidenten im Mittelpunkt des Weltgeschehens zu stehen? 

Maaz: Dieser ist eine mögliche Ausprägung der Schizophrenie, die auftreten kann, aber nicht muß. Auch das Gegenteil ist möglich, die Einbildung, gedemütigt, unterdrückt und bestraft zu werden.

Das Manifest lobt Trump, doch in einer Video-Botschaft, inzwischen von Youtube gelöscht, forderte der Täter die Amerikaner auf, gegen ihre Regierung zu rebellieren, da diese „Satan anbetet“ und in Geheimbasen „Babys foltert“. Das ergibt keinen Sinn. 

Maaz: Wahnsysteme folgen keiner rationalen Logik, müssen nicht „geschlossen“ sein. Sie sind Ausdruck seelischer Verwirrung und damit inhaltlich wechselhaft.   

Der Täter, der offenbar bei seinen Eltern wohnte, erschoß seine Mutter, verschonte aber den Vater. Sagt das etwas aus?

Maaz: Ganz sicher, nur kann Ihnen aus der Ferne keiner sagen was. Möglich, daß der Muttermord ein Rache- oder auch ein Gnadenakt war – weil er sich von ihr falsch behandelt fühlte oder weil er ihr den Schmerz seines Todes ersparen wollte. Das Überleben des Vaters kann ein Verschonen sein, aber auch ein gewolltes Aussetzen von Schmerz und Schande infolge der Tat. Und natürlich sind weitere Interpretationen möglich.

Er war nicht sozial deklassiert, gehörte zur Mittelklasse – Banklehre, BWL-Studium, Job. Warum sein Rachebedürfnis in Gestalt, ganze Völker auszulöschen?

Maaz: Wie bei vielen Psychosen lassen sich die Inhalte destruktiven Wahns nicht rational erklären. Aber wenn die akute Symptomatik durch Medikamente gedämpft ist, würde man schon nach seelischen Traumatisierungen forschen, die Gewaltphantasien erklären könnten. 

Zwar erwähnt der Täter negative Erlebnisse mit Migranten in der Jugend, doch nichts Schwerwiegendes. Zumindest nichts, was geeignet wäre, solchen Haß zu erklären. 

Maaz: Ja, eben! Das Psychotische folgt keiner verstehbaren Logik oder einer ableitbaren Ursache. 

Ist dann der Vorwurf, schuld habe der kritische öffentliche Diskurs über Migration und Islam, plausibel? 

Maaz: In ein psychotisches Wahngebäude werden häufig aktuelle Konfliktthemen der Gesellschaft eingebaut, die Bedrohungsaffekte bedienen, etwa Umweltgifte, elektromagnetische Felder und Strahlen, belastete Nahrung, Klimaveränderungen, Fremde und Fremdes, politische und religiöse Einflüsse. Nach der Logik dieses Vorwurfs dürften wir reale Gefahren und Bedrohungslagen öffentlich gar nicht mehr diskutieren.

Wenn die Opfer lediglich Projektionsfläche seines Hasses waren, hätte sich dieser dann auch gegen eine andere Gruppe richten können – etwa, wäre er als Jugendlicher statt von Migranten von Skinheads „angemacht“ worden, gegen „Rechts“? 

Maaz: Das ist natürlich Spekulation, aber natürlich hätte das sein können. Das eigentliche Problem war sein krankhaftes Haßpotential, und das suchte sich irgendwelche Ventile. Diese sind im Grunde austauschbar. Hier wurden Migranten zum Ziel, in anderen Fällen schießen Amokläufer auf ihre Lehrer und Mitschüler, wahllos auf Unbeteiligte oder eben auf einen phantasierten Feind. 

Wie politisch ist der Fall Hanau dann? 

Maaz: Das muß die Staatsanwaltschaft klären, wobei ein forensischer Psychiater beratend einbezogen werden sollte. Als Psychiater äußere ich erhebliche ethische Bedenken, wenn ein psychisch Kranker politisch instrumentalisiert wird. Wir beklagen zu Recht ein unerträgliches Verbrechen und sehnen uns nach emotionaler Entlastung. Aber wohin mit unserer Empörung, mit Trauer und Schmerz, wenn der Täter tot ist oder noch schwieriger, wenn er aus Krankheitsgründen schuldunfähig wäre? 

Sie meinen, die „Politisierung“ des Falls ist, ähnlich wie beim Täter, die Ventilierung eines Vergeltungsbedürfnisses, das sich eine Projektionsfläche, die AfD, sucht?

Maaz: Es ist ganz besonders zu beklagen, daß bei sehr belastenden Ereignissen ein Sündenbock gesucht wird. Die AfD steht im Fokus irrationaler Schuldzuweisung bezogen auf vielfache ungelöste Gesellschaftsprobleme. Damit wird die Gesellschaft nicht geschützt oder gerettet, sondern durch Verweigerung inhaltlicher Diskussion weiter gespalten und zerstört.

Es bleibt, daß sich das Abreagieren seines Hasses eine rechtsextreme Form gesucht hat – womit das Attentat auch nicht als unpolitisch betrachtet werden kann. Wir haben es also mit einer unpolitischen Ursache und einer politischen Externalisierung zu tun? 

Maaz: Wir kranken zur Zeit an einer Fülle gesellschaftlicher Probleme, die diskutiert werden müssen. Und das, ohne bestimmte Gruppen von vornherein auszuschließen, denn damit spaltet man zu klärende Inhalte ab. Als Arzt wehre ich mich entschieden gegen den politischen Mißbrauch eines psychisch Kranken.   

Dann hat AfD-Chef Gauland recht, wenn er sagt: „Das ist ein Verbrechen! Und von links und rechts wollen wir nicht reden.“ 

Maaz: Er wehrt sich offenbar gegen eine politische Instrumentalisierung. Die Motivsuche ist zur Aufklärung eines jeden Verbrechens, für die psychologische Bewertung und gerichtliche Verurteilung grundlegend. Gut, daß wir in einem Rechtsstaat leben, in dem Kriminalisten, Anwälte und Richter zu einer Beurteilung kommen – nicht ein „Volkszorn“, der aus vielen Motiven gespeist und der manipuliert werden kann, die Gesellschaft beherrscht. 

Was ist dann dran am Vorwurf, wenn nicht der Diskurs an sich, so aber doch die Art, wie die AfD ihn führe, sei ursächlich – Stichwort „Haß und Hetze“-Vorwurf. 

Maaz: Es gibt immer die Tendenz, schwierige und komplexe Vorgänge auf einfache Ursachen zu reduzieren. Sind Zigaretten schuld am Rauchen? Sind Alkohol und Drogen die Ursache für die Sucht? Sind Computerspiele verantwortlich für Gewalttaten? Nein, es sind immer wir Menschen mit unseren komplexen Problemen und Störungen. Und Haß und Hetze sind schwerwiegende Symptome individueller Not, ungelöster sozialer Konflikte und bei kollektiver Ausbreitung Zeichen gesellschaftlicher Fehlentwicklung. Wir müssen heute leider Haß und Hetze in allen politischen Lagern diagnostizieren, wobei die Dämonisierung der AfD inzwischen nahezu wahnhafte Züge angenommen hat.

Der innenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Mathias Middelberg mahnt, nicht nur die AfD verrohe den Diskurs, „auch viele andere tragen dazu bei. Wenn wir von Menschen als Gesindel sprechen, als Pack“. Bekanntlich hat Sigmar Gabriel Pegida-Anhänger „Pack“ und jüngst Friedrich Merz die AfD „Gesindel“ genannt – was letzterer allerdings bestreitet. 

Maaz: Ja, leider – es wird von rechts und links und von unten und oben gehetzt. Das ist die Symptomatik einer umfassenden Gesellschaftskrise. Haß und Hetze sind keine Ursachen, sondern Folgen schwerer politischer Fehler, die nicht mehr streitbar-konstruktiv gelöst, sondern durch Denkverbote, Realitätsverweigerung und politische Korrektheit nahezu magisch verleugnet werden sollen. Affekte durch bedrohliche Entwicklungen, wie Umwelt, Klima, Migration, Finanzen, Globalisierung etc., lähmen den demokratischen Diskurs. 

Wie ist es möglich, daß die etablierte Seite selbst tut, was sie der AfD – zum Teil zu Recht – vorwirft, das aber nicht sieht?

Maaz: Das erkläre ich in meinem neuen Buch „Das gespaltene Land“: Unsere Gesellschaft ist in einer krisenhaften Entwicklung. Darauf reagieren viele Menschen mit dem Bedürfnis nach einfacher Erklärung. Einen Schuldigen zu finden ist eine beliebte Methode. Indem die Schuld jemandem zugewiesen werden kann, hofft man, selbst exkulpiert zu sein und auf der besseren, richtigen Seite zu stehen. Und ein verunsichernder, komplexer, aktuell nicht lösbarer Prozeß erscheint dann durch den Kampf gegen das „Böse“ – schlimmstenfalls durch Vernichtung des ausgemachten Feindes – relativ einfach bewältigt werden zu können. So machen dann AfDler gerne „Linke“ und „Gutmenschen“ für alles verantwortlich, und die andere Seite die „Faschisten“ von der AfD. Dazu kommt, daß die Tragödie von Hanau mit ihren vielen Toten heftigste Gefühle auslöst, die nach Ableitung verlangen. Da tut es wohl, diese nach dem Sündenbockprinzip gegen die AfD richten zu können – Stichwort: „AfD hat mitgeschossen“. Die Realität des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit gegenüber einem Verbrechen, das keinen Sinn ergibt und der Tat eines Mörders, der, weil psychisch krank, möglicherweise gar nicht bestraft werden könnte, ist dagegen schwer zu ertragen. Bezogen auf eine komplexe gesellschaftliche Krise unbestimmten Ausganges wachsen irrationale Erklärungen, Schuldzuweisungen und Feindseligkeiten nach allen Seiten, um mit Projektionen die eigenen Ängste und Bedrohungsgefühle abzuwehren. Das Verbrechen von Hanau ist von schwer zu ertragender Tragik, die politische Istrumentalisierung aber macht aus der individuellen Tragik eine kollektive Tragödie wachsenden Hasses. 






Dr. Hans-Joachim Maaz, der Psychiater und Psychoanalytiker ist bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen und Auftritte in den Medien. Seit seinem Bestseller „Der Gefühlsstau“ (1990) gilt er als „Kenner der deutschen Befindlichkeit“ (ZDF), und mit „Die narzißtische Gesellschaft“ (2012) ist ihm ein „Psychogramm der Bundesrepublik“ (Spiegel) gelungen. Mitte März erscheint sein neues Buch: „Das gespaltene Land. Ein Psychogramm“. Geboren wurde er 1943 im böhmischen Niedereinsiedel.

Foto:Tatort des Massakers in Hanau: „Haß und Hetze sind schwerwiegende Erscheinungsmerkmale individueller Not, ungelöster sozialer Konflikte und bei kollektiver Ausbreitung Zeichen gesellschaftlicher Fehlentwicklung ... Haß und Hetze müssen wir leider in allen politischen Lagern diagnostizieren, wobei die Dämonisierung der AfD wahnhafte Züge angenommen hat“ 

 

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