© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Die Kontrolle verloren
Islamistischer Separatismus: Frankreichs Staatspräsident will sein Land zurückerobern
Karlheinz Weißmann

Das Pressefoto vom Dienstag vergangener Woche zeigte den Präsidenten der Republik, ihm gegenüber eine Frau im Hidsch?b. Vielleicht eine derjenigen, die ein „Selfie“ mit Macron machen wollten. Denn der Präsident war vor Ort, in Bourtzwiller, einem „sensiblen“ Viertel der elsässischen Stadt Mülhausen, heute Mulhouse. Macron sprach mit den Bewohnern und äußerte sein Bedauern, daß sie „stigmatisiert“ würden, daß es „Probleme“ gebe, vor allem wegen „äußerer Einflüsse“, und viele, zu viele, den Respekt vor den Gesetzen der Republik vermissen ließen.

Dann wurde der Ton schärfer. Es sei nicht akzeptabel, daß Männer sich weigerten, Frauen die Hand zu geben, Prüfungen der Jungfräulichkeit vor der Eheschließung stattfänden, es immer noch zu Zwangsheiraten komme, der Schulbesuch unter religiösem Vorwand verweigert werde. Schließlich erklärte Macron dem Islamismus den Krieg. Es gelte, eine „Schlacht“ zu schlagen, die „republikanische Rückeroberung“ voranzutreiben. Der Feind, das sei der „islamistische Separatismus“, die „Radikalisierung“, die mittlerweile alle Lebensbereiche in diesem wie in anderen Quartieren des Landes erfasse.

Der Begriff „Separatismus“ hat aufhorchen lassen. Aber sonst bietet das, was Macron äußert, wenig Neues. Ähnliches haben auch schon seine Vorgänger Hollande, Sarkozy, Chirac und Mitterrand gesagt, zu deren Amtszeiten der muslimische Bevölkerungsteil Frankreichs wesentlich kleiner, die Bedrohlichkeit der Lage wesentlich geringer war. Auch im Hinblick auf die unter Macron getroffenen Maßnahmen wird man keine qualitative Veränderung feststellen können. Von den insgesamt 150 Moscheen Frankreichs, die unter islamistischem Einfluß stehen, wurden 2019 lediglich zwei geschlossen. Als nach der sogenannten „Affäre Mila“ – ausgelöst durch die Polemik einer Schülerin gegen den Islam (JF 8/20) – ein Mitglied des vom Staat unterstützten Dachverbandes Conseil français du culte musulman (CFCM) erklärte, daß sie sich die folgenden Morddrohungen selbst zuzuschreiben habe, wurde das mit Schulterzucken quittiert. Mehr noch. Die Justizministerin Nicole Belloubet äußerte, daß die Kritik des Islam wenn schon kein Gesetz, dann aber doch die Prinzipien der Meinungsfreiheit verletze.

Bezeichnend schließlich, daß die Behörden alles getan hatten, um einen Bericht geheimzuhalten, der feststellte, daß man die Kontrolle über 150 Bezirke in Frankreich verloren habe. Sie bilden im Grunde einen islamistischen Staat im laizistischen Staate, und der Einfluß der Radikalen reiche bis in die Parteien, die Unternehmen, die Amtsstuben. Hinzu kommt, daß sich eine „Salafisierung“ im Mikrobereich feststellen läßt, die von einzelnen Häusern auf Straßenzüge und dann die weitere Umgebung ausgreift, bis ein weiteres Quartier „kippt“.

Macron weiß, daß die Entwicklung die Franzosen beunruhigt. Angesichts der in zwei Jahren bevorstehenden  Präsidentschaftswahl will er deshalb Entschlossenheit und Tatkraft demonstrieren. Aber seine Kritiker halten ihm mangelnde Glaubwürdigkeit vor. Sie können nicht nur auf Versäumnisse in der Vergangenheit hinweisen, sondern auch darauf, daß die in Aussicht gestellten Maßnahmen bestenfalls kosmetischer Natur sind. So könne man sich von der Beschneidung des Schulunterrichts in der Herkunftssprache kaum einen Effekt versprechen. Dasselbe gelte für den Kampf gegen die Einflußnahme von außen durch fundamentalistische Regime – in Mülhausen finanziert das Emirat Katar einen gigantischen Moscheekomplex –, denn entscheidender sei die Rolle muslimischer Nichtregierungsorganisationen, die wesentlich diskreter vorgingen und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle arbeiteten. Vor allem aber müsse man begreifen, daß der Islamismus längst „französisiert“ sei, also ein hausgemachtes, kein fremdgesteuertes Phänomen. 

Der Hauptvorwurf lautet allerdings, daß Macron es tunlichst vermeide, davon zu sprechen, daß die Hauptursache für den „Separatismus“ der Muslime die Einwanderung ist. Vielmehr erwecke er – wie alle seine Vorgänger, ganz gleich, ob sie von der Linken oder aus der bürgerlichen Mitte kamen – den Eindruck, als ob eine Art Automatismus jemanden in gesellschaftlicher Randstellung dazu bringe, Islamist zu werden. Muslime erschienen lediglich als Träger mehr oder weniger zufälliger Attribute, die sie fatalerweise auf einen Weg führten, der sich leicht vermeiden lasse, wenn man nur mehr Transferleistungen, mehr Information und mehr Erziehung in Umlauf bringe. Die Tatsache, daß die über Jahrzehnte andauernde, unkontrollierte Masseneinwanderung von Menschen mit einer vollkommen fremden Kultur und Religion zwangsläufig Parallelgesellschaften entstehen ließ, bleibt dabei ausgeblendet. Man übergeht so die wichtigste Ursache der heutigen Probleme mit einer Gemeinschaft, die wegen ihrer Größe, ihrer demographischen Potenz und ihrer Leistungsschwäche ein Sonderbewußtsein ausgebildet hat. Dieses tendiert zur Überkompensation der eigenen Schwäche, indem sich Muslime einerseits immer als „Opfer“ der Umstände betrachten, andererseits ein Elitebewußtsein gegenüber den Autochthonen pflegen.

Der Philosoph Rémi Brague hat deshalb davon gesprochen, daß nicht der Islam als „politisches“, sondern der Islam als „soziales“ Phänomen der Ursprung der Schwierigkeiten sei. Daß dieses Problem sich nicht auf dem Weg der Integration erledigt, wie man den Franzosen lange weisgemacht hat, ist auch daran zu erkennen, daß heute zwar nur eine Minderheit der erwachsenen Franzosen an ein göttliches Recht glaubt, das dem der Republik übergeordnet sein müsse. Aber unter den Muslimen im Land ist es etwa ein Drittel; unter den Jungen – zwischen 18 und 24 Jahre – sind es 45 Prozent.

Wenn Macron vor allem von rechts, etwa aus den Reihen des Rassemblement National, Kritik erfährt, liegt das nahe. Mit großer Genugtuung weist man hier darauf hin, daß die Rede von einer „Rückeroberung“ voraussetzt, daß vorher eine „Eroberung“ stattgefunden habe. Aber auch eine Linke wie die Sozialistin Céline Pina äußerte über die Pläne des Präsidenten, das seien „leere Schalen, die nur dazu dienen, einen politischen Willen in Szene zu setzen, anstelle konkreter Maßnahmen, und die es erlauben, untätig zu bleiben und das Volk zu beruhigen, bis zum nächsten Attentat, bis zum nächsten Mord, zum nächsten Skandal, bis zur nächsten Hetzjagd auf ein Mädchen, das von einer fanatisierten Meute aus seiner Schule getrieben wird“.