© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Rationierung im Gesundheitswesen
Ethisch problematisch
Dirk Meyer

Das Thema der Rationierung von Leistungen im Gesundheitswesen gilt als schwierig. Gerade wenn es um schwerwiegende Leiden, lebensverlängernde Maßnahmen oder gar um Leben und Tod geht, gerät die Diskussion vielfach zum Tabuthema. Ein kurzes Nachdenken offenbart jedoch zweierlei: Zum einen steht die Werthaltung „Gesundheit als höchstes Gut“ im Widerspruch zu unserem alltäglichen Verhalten. Dies belegen Risikosportarten wie Kitesurfen, Free-climbing und Tiefschnee-Skifahren, Fahrradfahren ohne Helm oder ein verbreiteter gesundheitsgefährdender Alkoholkonsum – 7,8 Millionen Menschen nehmen hierzulande riskante Mengen Alkohol zu sich (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., 2019). Zum anderen wird der Zugang zu Gesundheitsleistungen bereits jetzt beschränkt. Wartezeiten bei Fachärzten, die Unterversorgung in ländlichen Räumen, Zuzahlungen und Therapieausschlüsse geben Beispiele für ein breites Spektrum verdeckter und offener Zuteilungen.

Die letzten Jahrzehnte prägte eine Ausgabenexplosion. So stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 6,4 Prozent (1970) auf 9,2 Prozent (1980) und verharrt seit 2010 bei etwa elf Prozent. Jeder neunte Euro wird für Gesundheit ausgegeben. Hierfür sind vier Ursachen maßgeblich. Mit steigendem Wohlstand erhält die Gesundheit eine vergleichsweise höhere Wertschätzung. Einher geht ein demographischer Wandel, der die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen altersbedingt ansteigen läßt. Hinzu kommt ein teurer medizintechnischer Fortschritt mit neuen und zusätzlichen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Als vierter Einflußfaktor überlagert die Drittzahlung durch die Krankenversicherung mit einer weitgehend kostenfreien Inanspruchnahme von Leistungen das Ausgabenwachstum. Steigende Beitragssätze und Lohnnebenkosten sowie sichtbar fehlendes Klinikpersonal sind die Kehrseite der Beanspruchung – die Knappheit ist greifbar und keinesfalls als ein Phänomen der „Ökonomisierung“ abzutun.

Aus den knappen Gesundheitsressourcen folgt die Notwendigkeit, diese möglichst kostengünstig (effizient) gemäß ihrer größten Wirksamkeit (effektiv) einzusetzen. Genaugenommen ist das Problem noch umfassender: Da die Gesundheit nicht nur durch kurative Leistungen im Gesundheitswesen (Diagnostik, Therapie), sondern auch durch medizinische Prävention (Vorsor-geleistungen), Sicherheit im Straßenverkehr (Radwege, Tempo-30-Zonen, Pkw-Assistenzsysteme) sowie geringere Umweltschadstoffe gefördert wird, konkurrieren verschiedenste Maßnahmen um das gleiche Ziel – die Gesundheitsförderung.

Was ist denn Gesundheitsförderung eigentlich konkret – ein Gewinn an Lebensjahren, ein Mehr an Lebensqualität, schnellere Heilung oder gar nur Kosmetik? Schließlich geht es zu guter Letzt um Verteilungs-

aspekte. Wer soll primär Nutznießer sein? 

Die Komplexität des Problems steigt, wenn man die Frage zuläßt, was denn Gesundheitsförderung eigentlich konkret sei – ein Gewinn an Lebensjahren, ein Mehr an Lebensqualität, schnellere Heilung oder gar nur Kosmetik? Schließlich geht es zu guter Letzt um Verteilungsaspekte. Wer soll primär Nutznießer sein? Ressourceneinsätze in der Kinderheilkunde konkurrieren um verbesserte Möglichkeiten der schnellen Behandlung von Patienten mit Schlaganfall (Stroke units), von denen vornehmlich ältere Menschen profitieren.

Aktuelle Fallbeispiele um Zuteilungen und Begrenzungen im deutschen Gesundheitswesen sind vielfältig. Seit Januar 2019 gelten erhöhte Personaluntergrenzen für Intensivstationen. Patienten sollen vor unzureichender Betreuung, das Klinikpersonal vor Überlastung und Fehlern geschützt werden. Die Folgen sind nicht nur ein Kostenanstieg. Aufgrund fehlender Pflegekräfte müssen Betten zeitweise stillgelegt und Rettungswagen abgewiesen werden. Der akute Versorgungsnotstand in Kinderklinken resultiert hingegen vornehmlich aus einer unzureichenden Finanzierung. Die Erlöse (Fallpauschalen) sind an der Erwachsenenmedizin orientiert. Statt zwei Minuten für eine Blutentnahme, braucht es bei Kleinkindern bis zu einer Stunde – bei gleichen Entgeltsätzen. Intensivere Betreuung und die Aufnahme von Elternteilen spiegeln die Einnah-men nicht wider. Ein Dilemma zwischen finanzieller Notwendigkeit und adäquater Patientenversorgung führt nicht nur zu ethischen Konfliktsituationen. Seit 1991 wurden vier von zehn Betten in Kinderkliniken abgebaut – der barmherzige Samariter ist kein Geschäftsmodell. Kinder haben keine Lobby, und die Akteure im System haben andere Prioritäten.

Klinikleiter können beispielsweise durch innovativ-spektakuläre Therapien ihre Karriere befeuern. Gentherapien zur Bekämpfung von Krebs, Erblindung und Muskelschwund machen Schlagzeilen. Gekoppelt an Einzelschicksale und medienwirksam inszeniert, kommen Medikamente zur Anwendung, die alle bisherigen Therapiekosten in den Schatten stellen: Kymriah (Novartis) zur Behandlung schwerstkranker Leukämiepatienten: 320.000 Euro; Yescarta (Geli-ad) gegen Lymphdrüsenkrebs bei Kindern und jungen Erwachsenen: 327.000 Euro; Luxturna (Spark Therapeutics) gegen frühkindliche Erblindung: 345.000 Euro pro Auge; Zolgensma (Novartis) bei spinaler muskulärer Atrophie von Kleinkindern: 1,9 Millionen Euro.

Dies ist nur die Spitze eines Eisbergs innovativer, patentgeschützter Arzneimittel. Für sie gilt im ersten Jahr nach Zulassung eine freie Preisgestaltung. Auf sie entfallen zwar nur 6,4 Prozent der Packungen, aber knapp die Hälfte aller Ausgaben für Arzneimittel von rund 41 Milliarden Euro (2018). So betragen die Jahrestherapiekosten zur Migränevorbeugung mit Aimovig (Novartis) 12.000 Euro – geeignet für potentiell 2,4 Millionen Patienten, was rein rechnerisch 29 Milliarden Euro Zusatzkosten ausmachen würde. Der Vertrieb innovativer Arzneien muß zwar die Forschungskosten einbeziehen – doch wie ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Allein diese Frage ist im Fall lebensrettender Therapien provokant, denn was ist ein Menschenleben wert? Umgekehrt: Wie viele Kinderschicksale könnten mit diesem Geld durch eine intensivere Betreuung ihrer chronischen Erkrankungen Besserung erfahren?

Unabhängig vom Alter macht das letzte Lebensjahr geschätzt 30 bis 50 Prozent der gesamten medizinischen Kosten eines Menschen aus – egal ob die multimorbide, an Krebs leidende 90jährige oder der schwer verunfallte 19jährige Motorradfahrer.

Die Beispiele weisen auf eher spontane, wenig planvolle und teils widersprüchliche Lösungsversuche knapper Gesundheitsmittel hin. Gesellschaftliche Solidarität findet ihren Ausdruck in gemeinschaftlicher Finanzierung bei individuell gleichem Zugang zur medizinischen Versorgung. Insofern kann der sonst übliche Markt bei individueller Zahlungsbereitschaft die Zuteilung nicht lösen. Eine deshalb notwendige gesellschaftliche Debatte sollte ethische und rechtliche Aspekte der Rationierung, gesellschaftlich akzeptable Zuteilungskriterien bis hin zu konkreten Entscheidungsverfahren umfassen.

Eine Abwägung kann auf zweierlei Weise erfolgen – fallweise oder systematisch regelgebunden. Das Prinzip der Nicht-Bevorteilung einzelner Personen gebietet die Anwendung transparenter, allgemeiner Zuteilungsregeln. Dies stellt sicher, daß Patienten in vergleichbaren medizinischen Situationen die gleiche Behandlung erhalten. Dabei steht als Startpunkt die abstrakte Abwägung ethischer Konflikte. Ist ein Gewinn an Lebensjahren ein allgemeines Kriterium? Muß nicht die Qualität dieses Zugewinns einen Gewichtungsfaktor darstellen? Sollte man den individuellen Krankheitsverlauf der jeweiligen Person als zentrales Kriterium heranziehen? Hier ist der Hintergrund, daß unabhängig vom Alter das letzte Lebensjahr geschätzt 30 bis 50 Prozent der gesamten medizinischen Kosten eines Menschen ausmacht – egal ob die multimorbide, an Krebs leidende 90jährige oder der schwer verunfallte 19jährige Motorradfahrer. Dies hätte die ethisch schmerzliche Konsequenz, die lebenserhaltenden Maßnahmen möglicherweise in beiden Fällen schneller beenden zu müssen.

Als ethisch vertretbarer Kompromiß könnten die Hilfen auf palliativmedizinische Maßnahmen begrenzt werden. Die Rechtfertigung würde zum einen im Prinzip der Gleichbehandlung, zum anderen in der (konkret so leider nicht sichtbaren) höheren Nutzenstiftung der dann eingesparten Mittel für andere Patienten liegen. Die Umsetzung in der tatsächlichen Anwendung der Kriterien wird vornehmlich in einer Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen, in der das Verhältnis von Ressourcenaufwand zu erwartetem medizinischen Nutzen abzuwiegen ist. Während die medizinischen Kosten relativ einfach in Euro-Geldbeträgen meßbar sind, ist die Nutzenstiftung vornehmlich nur durch inhaltliche Merkmale beschreibbar.

Da die Sozialbeiträge und Steuermittel für das Gesundheitswesen gemeinsam aufgebracht werden, sollten Verteilungsentscheidungen durch demokratisch legitimierte Institutionen erfolgen. Dies müßten keinesfalls nur die Anbieter- und Versichertenverbände im Zusammenspiel mit dem Bundesministerium sein. Weitere Interessenvertretungen wie Kirchen und betroffene Patientenorganisationen könnten mit Sachverstand und Meinung am Entscheidungsprozeß beteiligt werden. Schließlich sollten Versicherte und Patienten über die Kriterien und die daraus abgeleiteten Leistungsbegrenzungen hinreichend informiert werden. Im konkreten Fall sollte Patienten bei abgelehnter Leistung eine Widerspruchsmöglichkeit offenstehen. Fazit: Rationierungen sind notwendig. Sie sollten nachprüfbar und rechtmäßig, unpersönlich, transparent und im voraus ausgerichtet sein.






Prof. Dr. Dirk Meyer, Jahrgang 1957, lehrt Ordnungsöko­nomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit den Forschungsschwerpunkten Euro, Wettbewerbs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Foto: Teure Medikamenten-Neuentwicklungen: Der Vertrieb innovativer Arzneien muß zwar die Forschungskosten einbeziehen, doch wie ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Allein diese Frage ist im Fall lebensrettender Therapien provokant.