© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Mit Goethe zur Diktatur des Proletariats
Zum 150. Geburtstag der Klassenkämpferin und Weltrevolutionärin Rosa Luxemburg
Wolfgang Müller

Vor dem Ersten Weltkrieg, als Rosa Luxemburg an der Berliner Parteischule der SPD lehrte, lud sie sonntags gern auserwählte unter ihren Schülern zum Kaffee ein. Die jungen Leute saßen dann schüchtern auf der Sofakante und drückten ihre Kuchenteller ängstlich an die Brust, um nur ja nicht zu krümeln. Denn das in Kleidung – „bis hinab zu den blank geputzten Schuhen“ – und Haartracht „außerordentlich gepflegte“ Fräulein Doktor Luxemburg, das eine „große Transformation“ vorbereitete, Klassenkampf, Massenstreik und Revolution bis zum Untergang der kapitalistischen Welt predigte, hielt daheim auf peinlichste Ordnung und huldigte, wie ihr dieses sonntägliche Idyll kolportierender Biograph Peter Nettl berichtet (1965), „dem deutschen Sauberkeitsfimmel wie jede Bürgersfrau“.

Der Charakter Rosa Luxemburgs, der am 5. März 1870 im Zamo?? in Russisch-Polen geborenen Tochter eines assimilierten jüdischen Kaufmanns, weist viele solcher scheinbaren Widersprüche auf. So empfahl sie sich der sozialistischen Internationalen als Expertin für den Generalstreik, gab aber schon während ihrer Züricher Studienzeit oft einem übermächtigen Bedürfnis nach Alleinsein nach. Allergisch reagierte sie auf jeden Lärm, vertraute nur wenigen, pflegte beständiger zahllose Feindschaften als seltene Freundschaften. 

Sie, die „Todfeindin“ der Bourgeoisie, wuchs nicht nur in einer dem Schiller-Kult frönenden, dreisprachig – polnisch, deutsch, russisch – parlierenden Familie auf. Sie hatte deren bürgerlich-konservativen Kunstgeschmack auch tief verinnerlicht. Liebte über alles Tizian und Rembrandt, Mozart und Beethoven, die todtraurigen Lieder des im Wahnsinn versunkenen Wagnerianers Hugo Wolf. Schätzte die Weimarer Klassiker ebenso wie Dostojewski und Tolstoi weit höher als jede „moderne“ Dichtung. Noch am Abend des 15. Januar 1919, kurz vor ihrem Tod, als Gefangene im Hotel Eden, dem Hauptquartier ihrer Mörder von der GardeKavallerie-Schützendivision, soll sie sich in Goethes „Faust“ vertieft haben. 

Und doch hatte sie, die Tierfreundin, die kein Blut sehen und kein kreatürliches Leid ertragen konnte, kurz zuvor als militante Ideologin des Spartakusbundes und der neugegründeten KPD den systematischen Terror verteidigt, den Lenin und sein Tscheka-Chef Feliks Dzier?y?ski seit der bolschewistischen Machtergreifung entfesselten. Jener Dzier?y?ski, der während der gemeinsamen „Kampfzeit“ im polnischen Untergrund nie einen Hehl aus seiner antisemitischen Abneigung gegenüber der „Parteifreundin“ machte. 

Mit ihren Stellungnahmen zum Terror, dokumentiert vor allem im Essay „Zur russischen Revolution“, den sie im Sommer 1918 noch im Strafgefängnis Breslau verfaßte, übersetzte sie ihre komplexe Psyche letztmalig ins Politische. Denn einerseits kennt sie kein Pardon. Revolutionen würden nun einmal „nicht mit Rosenwasser getauft“ oder durch parlamentarische Mehrheiten beschlossen. Wie sich das in ihrem „lächerlichen kleinbürgerlichen Illusionismus“ SPD-Granden vorstellten, die sie durchweg als „Witzblattfiguren“ verhöhnte. Alle Maßnahmen seien gerechtfertigt, um Widerstand der selbst nie zimperlich gewesenen Ausbeuterklasse in Rußland und anderswo „mit eiserner Faust zu brechen“. Die sozialistische Diktatur dürfe „vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken“, müsse alle Register auch des terroristischen Drucks ziehen, bis hin zur Aufhebung politischer Rechte und zur Existenzvernichtung.

Ablehnung der „Diktatur einer Partei oder Clique“

Andererseits sei der Terror nur für die Zeit des Ausnahmezustands während des Machtwechsels legitim. Ja zur „rücksichtslosesten Diktatur“ des Proletariats, aber Nein zur „Diktatur einer Partei oder Clique“, derart scharf formulierte das Breslauer Manuskript ihr Veto gegen das absolutistische Parteiregime Lenins. Der gar nicht daran dachte, „unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen“ die von Rosa Luxemburg erträumte „unbeschränkte Demokratie“ zu etablieren. 

Diese erst 1922 posthum veröffentlichte Kritik am heiligen Lenin, mit der Luxemburg gleich neben Trotzki automatisch unter die Exkommunizierten der Stalin-Ära fiel, hat den Deutungsschraten vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, die den Breslauer Text 1974 in Luxemburgs „Gesammelten Werken“ edierten, nicht geringe Verrenkungsübungen abverlangt. Denn keinesfalls wollten die moskauhörigen Pankower Betonkommunisten auf das enorme propagandistische Potential verzichten, das in Luxemburg als Ikone und Märtyrerin der Arbeiterbewegung steckte. Daher brachten sie deren Verständnis von sozialistischer Diktatur in einer etwas gewaltsamen Interpretation mit dem Lenins in Einklang. Demnach sei doch ihrer Forderung nach Demokratie dort genüge getan, wo, wie in allen „Volksdemokratien“, die Kommunistische Partei wirklich den Willen der Arbeiter und Bauern vollstrecke. Eine Exegese, die jedoch Luxemburgs Option für die „vollständigere sozialistische Demokratie“ und gegen den „parlamentarischen Kretinismus“, reale Machtstrukturen verschleiernden „Formaldemokratie“ angemessener ist als ihre Vereinnahmung für einen vom Klassenkampf losgelösten „dritten Weg des rätedemokratischen Sozialismus“.

Diese heute kanonische Lesart startete ihre Karriere übrigens im „Westen“. Geschichtsblind borniert, aber mit nachhaltiger Resonanz begründet von Volker Hauff (SPD), als Luxemburgs Konterfei 1974 erstmals auf einer Briefmarke der Bundespost erschien. Damals ernannte der Staatssekretär im Bundesministerium für Post- und Fernmeldewesen die Weltrevolutionärin, weil sie ja lediglich jene Variante der Demokratie verabscheut habe, in der sich die „Parlamentsmehrheit wie eine Vertretung der Regierung gegenüber dem Volke aufführte“, dreist zur Wegbereiterin der Bonner Republik und zur Vorläuferin der „linken Protestbewegung der sechziger Jahre“.