© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Führte der Weg der Frühmenschen durch Bayern?
Skelettfunde im Allgäu: Europas Anteil an der Evolutionsgeschichte / Zweifel an den Grundfesten der Paläoanthropologie?
Dieter Menke

Die Geschichte, wonach Afrika die „Wiege der Menschheit“ sei und nach der „wir alle Afrikaner“ seien, schien bisher unwiderlegbar. Doch das könnte sich jetzt ändern. Weil neuere Funde aus Süddeutschland diese Sicht auf die Evolution der großen Menschenaffen und des Menschen fundamental in Frage stellen.

Die Entdeckungen belegen nicht nur, daß die Entwicklung der Hominiden nicht ausschließlich in Afrika stattfand, sondern sie ermöglichen auch die These, wonach sich die entscheidende Trennung der Linien zwischen Menschaffe und Mensch in Eurasien ereignete. 

Zu dieser Folgerung zwingen die Fossilien, die eine Mannschaft der Tübinger Paläontologin Madelaine Böhme in der Tongrube Hammerschmiede bei Pforzen im Landkreis Ostallgäu ausgegraben hat. Böhme hat sich auf den „Anteil Europas an der Menschwerdung des Affen“ spezialisiert, und in der Fachwelt gelten diese Skelettfunde als durchaus geeignet, „die Grundfesten der Paläoanthropologie zu erschüttern“ (Senckenberg, 1-3/20). Etwa 15.000 Wirbeltierknochen legten Böhmes Helfer zwischen 2015 und 2018 auf dem Areal der Hammerschmiede frei. Darunter befand sich ein aus 21 Einzelfunden bestehendes, etwa 11,6 Millionen Jahre altes Teilskelett eines männlichen Primaten, das ausreichte, um eine neue Art auszuweisen: Danuvius guggenmosi. Zu der Böhme auch die ebenfalls gesicherten, aus 16 Einzelfunden bestehenden Reste von zwei kleineren adulten Weibchen sowie eines juvenilen männlichen Primaten zählt.

Funktional verlängerte Lendenwirbelsäule

Die Tübinger Forscher charakterisieren die neue Art als 18 bis 30 Kilogramm schweren, etwa einen Meter großen Hominiden mit Proportionen, die denen des Bonobo ähneln. Anhand des männlichen Skeletts sei es zudem möglich gewesen, die Fortbewegungsweise von Danuvius zu rekonstruieren. Und daraus ergebe sich das eigentlich Sensationelle des Fundes. Denn die Anatomie, Körperbau, Körperhaltung und Fortbewegungsweise sei für einen Primaten „bislang einzigartig“. Wie viel später Homo sapiens, stand und lief Danuvius zweibeinig, führte jedoch ein Leben auf Bäumen. Trotzdem, wie für Zweibeiner typisch, verfügte er über eine funktional verlängerte Lendenwirbelsäule sowie über gestreckte Hüft- und Kniegelenke. Zugleich, wie alle Menschenaffen, über verlängerte, im Ellbogengelenk komplett durchstreckbare Arme mit sehr beweglichen Handgelenken.

Im Unterschied zur schreitenden Zweibeinigkeit späterer Vormenschen hatte Danuvius jedoch eine abspreizbare und äußerst kräftige Zehe, um Äste sicher greifen zu können. Worauf Böhme ihre Hypothese stützt, daß sich der aufrechte Gang der Hominiden nicht bei den vierbeinigen Vorfahren des modernen Menschen in der afrikanischen Steppe entwickelte, sondern in den Bäumen subtropischer europäischer Wälder, wo Danuvius vor zwölf Millionen Jahren als letzter gemeinsamer Vorfahre von Mensch und Schimpanse lebte.

Böhme meint, mit der „arborealen Bipedie“ dieses mit gestreckten Gliedmaßen kletternden Hominiden ein neues „missing link“ in der seit Darwins Zeiten höchst umstrittenen Evolution des aufrechten Gangs entdeckt zu haben. Demnach könnte der Menschenaffe Danuvius guggenmosi funktionell das lange gesuchte Bindeglied zwischen Menschenaffe und Mensch sein.

Eine in der Forschung insgesamt zwar wohlwollend aufgenommene Hypothese, die, worauf Reinhard Ziegler in der Naturwissenschaftlichen Rundschau (12/19) hinweist, gleichwohl schon kritische Einwände provozierte. So glaubt Scott Williams (New York University), von der Wirbelsäule sei zu wenig erhalten, um die Reste mit Sicherheit als lange, flexible Lendenwirbelsäule zu identifizieren. Und Sergio Almécija (American Museum of Natural History) zweifelt sogar grundsätzlich an, allein aus der Knochenform auf die Fortbewegungsweise schließen zu können. Auch die genetische Forschung wird noch ein Wort mitreden wollen. Daran, daß es sich bei Böhmes „aufrecht gehenden Menschenaffen aus Bayern“ um einen „Meilenstein der Paläoanthropologie“ handelt, zweifelt jedoch keiner ihrer Kollegen.

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