© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

Ein Konflikt mit Ansage
Neue Türkei-Krise und Migrantenansturm auf Griechenland: Skrupellos betreibt Erdo?an Großmachtpolitik auf dem Rücken von Ausländern
Marc Zoellner

Migranten

Um ihre Bündnispartner in der Syrienfrage konform zu halten – und ebenso, um sich selbst finanziell zu entlasten –, setzt die Türkei ihr politisches Kapital auf die syrischen Flüchtlinge: Am vergangenen Wochenende öffnete Ankara die Grenzen zu Griechenland. Bis Samstag abend zählte die Internationale Organisation für Migration (IOM) an den Grenzübergängen über 13.000 Migranten, überwiegend Afghanen, Iraker und Pakistaner. „Die Anzahl der Migranten, die von Edirne aus an die Grenze kommen, wuchs den Tag über, als Autos, Taxis und Busse aus Istanbul eintrafen“, bestätigte Lado Gvilava, der Vorstand des türkischen IOM-Verbands. „Die meisten von ihnen sind Männer, aber wir haben auch viele Familien mit kleinen Kindern gesehen.“ Um den Ansturm auf die Grenze aufzuhalten, hatten griechische Soldaten Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt. „Die Leute aus den Bussen, die große Mehrheit davon Afghanen, erzählen, sie seien nach Griechenland unterwegs in der Hoffnung, später nach Deutschland zu gelangen“, berichten Reporter des US-Magazins Time.

„Die Zahl der Flüchtlinge, die bis 19.40 Uhr unser Land über Edirne verlassen, beträgt bereits 100.577 Menschen“, hatte der türkische Innenminister Süleyman Soylu bereits vergangenen Samstag abend getwittert. Die IOM konnte diese Angaben nicht verifizieren, bestätigte jedoch bis Wochenbeginn mehrere zehntausend Menschen, die vor den Grenzen Griechenlands und Bulgariens lagerten. Bis zu tausend Migranten seien überdies allein vergangenes Wochenende mit Booten auf griechische Inseln übergesetzt. 

Erdogan will lieber Krise in der EU als in der Türkei

Vorsorglich – und unter dem Ansturm Tausender Migranten stehend – ließ auch Bulgarien seine Grenzübergänge zur Türkei schließen. Der bulgarische Verteidigungsminister Krasimir Karakachanov verkündete überdies, notfalls auch Militär zur Sicherung seiner Landesgrenzen einzusetzen. Ein Krisentreffen des bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissov mit Erdo?an verlief am Montag ergebnislos.

Mit sechs Milliarden Euro unterstützt die EU die Türkei seit 2016 in der Unterbringung von Migranten. Doch Ankara kritisiert – nicht ganz zu Unrecht – die bisherigen Zahlungen als zu gering. Immerhin koste allein die geplante Rückführung von einer Million Migranten in den türkischen Sicherheitskorridor gut drei Milliarden Euro. Die bisherigen Kosten des Migrantenzustroms beziffert Ankara auf 37 Milliarden Euro (JF 51/19). „Europa muß nun umfassende Maßnahmen ergreifen, um diese gewaltige Herausforderung zu bewältigen“, wies Erdo?ans Sprecher Fahrettin Altun die Verantwortung seiner Regierung zur Grenzöffnung zurück und erklärte, Ankara bereite sich nun vorrangig auf Neuankömmlinge aus Idlib vor, „anstatt Flüchtlinge daran zu hindern, weiter nach Europa einzuwandern“. Konkret ist Ankara eine innenpolitische Krise in den EU-Staaten, wie sie im Herbst 2015 schon einmal schwelte, jederzeit lieber als eine in der Türkei, die Erdo?ans AKP-Regierung am Ende selbst schwächen oder gar entmachten könnte.

„Auf dem Rücken der Flüchtlinge“ betreibe Erdo?an seine Politik, mahnte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag nach Abschluß des Berliner Integrationsgipfels, warb aber auch um Verständnis für die Situation der türkischen Regierung. „Die Türkei steht vor einer großen Aufgabe, gerade in Hinblick auf Idlib“, erklärte Merkel und versprach eine rasche Aufnahme von Gesprächen sowie die direkte Unterstützung der Türkei in der Flüchtlingsfrage von seiten der Bundesregierung.





IDLIB

Rasch ließ die Türkei ihren Worten Taten folgen: „Wir können nicht gleichgültig zusehen, wie sich Ereignisse wie jene in Ruanda und in Bosnien-Herzegowina jetzt in Idlib wiederholen“, verkündete vergangenen Donnerstag Fahrettin Altun, der Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo?an. „Alle uns bekannten Ziele des syrischen Regimes werden jetzt aus der Luft und vom Boden aus unter Beschuß genommen.“ Mit einem Teppich aus Präzisionsschlägen überzieht die türkische Luftwaffe seitdem den kompletten Nordwesten Syriens – in Hama und Aleppo erleiden die Flughäfen massive Schäden; in as-Safira werden Industrieanlagen zerstört; auf der strategisch wichtigen Fernstraße M5 zwischen Aleppo und Damaskus geraten syrische Militärkonvois ins Fadenkreuz; an der Mittelmeerküste unweit der Hafenstadt Latakia kreisen bewaffnete türkische Drohnen auf der Suche nach relevanten Bombardierungszielen am Himmel.

Über 2.200 syrische Soldaten sowie an deren Seite kämpfende libanesische Söldner der radikalislamischen Hisbollah-Miliz seien bis Sonntag abend „neutralisiert“ worden, gab das türkische Verteidigungsministerium an. Die hohe Opferzahl mochte Damaskus nicht bestätigen, wohl aber den Abschuß zweier seiner Kampfflugzeuge. Gleichwohl zeichnet sich, gedeckt durch die türkischen Luftangriffe, ein erneuter Vormarsch der von Ankara unterstützten Rebellen – unter denen sich ebenfalls etliche Islamisten befinden – im Süden wie im Osten der Idliber Front ab.

Russische Luftwaffe flog  täglich bis zu 150 Angriffe

Dutzende Dörfer und Siedlungen wurden am Wochenende zurückerobert, die Fernstraße M5 erneut unterbrochen, die Stadt Saraqib nahezu komplett von Regierungstruppen „gesäubert“. Als Reaktion auf die Rebellenvorstöße erklärte Damaskus den Luftraum über Idlib für gesperrt und sämtliche Flugobjekte zu legitimen Zielen seiner Luftabwehr.

Mit ihrer Offensive hatte die Türkei unerwartet heftig auf die Tötung von mindestens 33 ihrer Soldaten, die in der Provinz Idlib stationiert waren, durch die syrische Luftwaffe reagiert. Mehr als ein Dutzend militärische Beobachtungsposten unterhält die Türkei mittlerweile in der Region, um ein mit Moskau im September 2018 vereinbartes Waffenstillstandsabkommen zwischen den Rebellen und der syrischen Armee für Idlib zu überwachen. Von diesem Abkommen explizit ausgeschlossen waren radikalislamische Gruppierungen, gegen welche sowohl die Türkei als auch Rußland und Syrien weiter operieren dürfen. Unter dem Vorwand der Bekämpfung der al-Nusra-Front, die der Terrorgruppe al-Kaida nahesteht, hatte Damaskus schließlich seine Offensive in Idlib begonnen.





SYRIEN

Unter der Bezeichnung „Morgenröte über Idlib“ hatte Syriens Machthaber Baschar al-Assad am 19. Dezember vergangenen Jahres die Rückeroberung der letzten von den Rebellen noch gehaltenen Provinz eingeläutet. Mit Hilfe der russischen Luftwaffe, die täglich bis zu 150 Angriffe flog, gelangen den Regierungstruppen des Syrischen Heeres (SAA) weite Vorstöße in die Region. Bereits Anfang Februar hielten die Rebellen nur noch gut 57 Prozent des umkämpften Terrains (JF 8/20). Doch eine Verstärkung von Hunderten türkischen Militärfahrzeugen, die mehrere neue Beobachtungsposten etablierten sowie fünf von syrischen Truppen umschlossene Operationsbasen entsetzten, bremste die syrische Offensive nicht nur aus, sondern verlieh den mit der Türkei verbündeten Rebellen neue Hoffnung. „Die Entwicklungen in Idlib haben sich zu unserem Vorteil gewendet“, hatte der türkische Präsident Erdo?an noch wenige Tage vor der Tötung der 33 türkischen Soldaten gut gelaunt erklärt. „Wir haben drei Märtyrer, die in Frieden ruhen mögen. Doch die Verluste des syrischen Regimes sind auf der anderen Seite sehr hoch.“

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 steht der Sturz al-Assads ganz oben auf der außenpolitischen Agenda Erdo?ans. Im März 2014 wurden Planspiele türkischer Militärstrategen zu einer Bodenoperation gegen die damals noch in weiten Teilen Syriens ansässige Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) bekannt. Am 24. August 2016 schließlich marschierten türkische Truppen in der vom IS gehaltenen syrischen Grenzstadt Jarabulus ein und halten sie seitdem besetzt. Der Operation „Schild des Euphrat“ folgte im Oktober 2019 die Operation „Friedensquelle“, die unter dem Vorwand des Kampfes gegen kurdische Separatisten erstmalig einen türkischen Sicherheitskorridor auf kurdisch-syrischem Gebiet schuf. Mit Moskau einigte sich Ankara auf gemeinsame Patrouillengänge, um die angespannte Lage beider Nationen, die im syrischen Bürgerkrieg auf gegensätzlichen Seiten kämpfen, zu deeskalieren. Der jüngste tödliche Luftangriff Syriens auf türkische Soldaten – von dem sich Rußland ausdrücklich distanzierte – macht jedoch erneut die Fragilität sowie die geringe Haltbarkeitsdauer politischer Abkommen in diesem verworrenen Konflikt deutlich.





NATO

Katastrophal treffen die neueren Kampfhandlungen die ohnehin bereits geschundene Zivilbevölkerung Idlibs: Bedingt durch Flüchtlinge aus anderen syrischen Provinzen hatte sich die hiesige Bevölkerung seit 2011 auf mehr als drei Millionen Menschen verdoppelt. Von Kriegshandlungen verschonte Wohnkomplexe sind rar – über 400.000 Idliber leben derzeit in Zeltstädten; auch bei Minusgraden sowie nur notwendigster Grundversorgung. „Bereits in den vergangenen Monaten flohen 900.000 Vertriebene in den Norden Idlibs“, Richtung türkische Grenze, informierte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Filippo Grandi, vergangenes Wochenende. „Doch in den letzten Tagen hat sich diese Entwicklung noch einmal beschleunigt.“ Die Türkei, die bereits 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge unterhält und derzeit deren Rücksiedelung im kurdischen Sicherheitskorridor vorbereitet, hält ihre Ostgrenzen dicht geschlossen. Ein weiterer Flüchtlingszustrom wäre ein innenpolitisches Desaster für Erdo?ans konservative AKP-Regierung.

Paris debattiert, ob NatoBündnisfall gegeben wäre

Rückendeckung in ihrer Idlib-Offensive erwartet die Türkei von daher von der Nato. Bereits am 19. Februar beantragte Ankara beim nordatlantischen Verteidigungsbündnis eine Flugverbotszone über der Provinz; vorrangig, so die Begründung, zum Schutz der leidenden Zivilbevölkerung. Acht Tage später, nach dem verheerenden Angriff auf die türkischen Soldaten, berief die Türkei ihre Bündnispartner zu einem Dringlichkeitstreffen ein: nach Artikel 4 der Nato-Satzung, der als Maßnahme zur gemeinsamen Beratung greift, „wenn nach der Meinung eines von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit irgendeines der vertragschließenden Staaten bedroht ist“. Schon zweimal, im Juni sowie im Oktober 2012, hatte Ankara derartige Sitzungen verlangt, als damals türkische Truppen und Kampfjets von syrischen Einheiten unter Beschuß genommen worden waren.

Für die Nato ist die Türkei ein wichtiger Bündnispartner: Sie beherrscht den Zugang zum Schwarzen Meer und dient als Korridor Europas in den Nahen Osten sowie als Stützpunkt. Trotz alledem zeigen sich die Bündnispartner unwillig, in den syrischen Konflikt hineingezogen zu werden. Zwar versprechen die USA Ankara jeglichen Beistand im Falle einer Bedrohung. Frankreich jedoch debattiert schon offen, ob man den Bündnisfall mit der Türkei in diesem selbstverschuldeten Dilemma nicht einfach aussetzen könne. Und ein Veto Griechenlands, des türkischen Erzrivalen in der Ägäis, zur Verurteilung des syrischen Luftangriffs führte bereits Ende Februar zum bilateralen Eklat.