© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

„Bildung made in Entenhausen“
Wissensstandort Deutschland in Gefahr – Man mag es kaum noch hören und hofft, so schlimm wird es schon nicht kommen. Irrtum, warnt der Bildungsexperte Hans Peter Klein. In seinem Buch „Abitur und Bachelor für alle“ zeigt er, wie „ein Land seine Zukunft verspielt“
Moritz Schwarz

Herr Professor Klein, ist es wirklich so schlimm um unser Bildungswesen bestellt?

Hans Peter Klein: Niemand bestreitet heute ernsthaft, daß es – parallel zu der seit der Jahrtausendwende betriebenen Bildungsexpansion – zu einer deutlichen Absenkung der Ansprüche im deutschen Bildungswesen gekommen ist. Allein die Abiturientenquote hat sich gegenüber der der neunziger Jahre nahezu verdoppelt und das bei gleichzeitig sinkendem Intelligenzquotient in der Bevölkerung, auch als negativer Flynn-Effekt bekannt.

Allerdings ist der IQ nicht einziger Indikator eines erfolgreichen Bildungswesens. Haben Sie konkrete Beweise für die „Absenkung der Ansprüche“ selbst im Abitur?

Klein: Wir untersuchen seit etwa fünfzehn Jahren die Zentralabiturarbeiten ausgewählter Bundesländer vor allem in Biologie und Mathematik. Bestes Beispiel für deren fachlichen Niedergang war ein Experiment in NRW, in dem wir Neuntkläßlern eine Leistungskurs­abiturarbeit des Jahres 2009 vorgelegt hatten. Trotz Unkenntnis des Themas konnten fast alle Schüler diese teilweise mit guten Leistungen lösen – weil sich die Antworten aus dem umfangreichen Arbeitsmaterial der Prüfungsaufgaben problemlos erarbeiten ließen. 

Aber zum Beispiel in Mathematik oder Englisch ist das doch nicht möglich. 

Klein: Selbstverständlich trifft diese Entwicklung weitgehend auf alle Fächer zu. Auch in Mathematik oder Physik enthalten die heutigen Abituraufgaben mehr Text als Formeln, und der Taschenrechnereinsatz dominiert. Nach dem schriftlichen Zentralabitur 2009 äußerten sich Schüler in den heute noch im Netz zu findenden Uniprotokollen NRW entsprechend: in Physik habe die Arbeit keinen mathematischen Anspruch gehabt und man habe mehr Text geschrieben als in der Deutschklausur. In Englisch habe man zum Thema Shakespeare dessen Werke gar nicht lesen müssen, alle Informationen hätten im begleitenden Arbeitsmaterial gestanden. 

Betrifft diese Entwicklung alle Bundesländer in gleichem Maße?

Klein: Nein. Die Nivellierung der Ansprüche fällt zum Beispiel in Bremen, Hamburg, Berlin oder NRW besonders auf. In Bayern etwa müssen alle Schüler das Fach Mathematik im schriftlichen Zentralabitur absolvieren. In Sachsen-Anhalt kann man selbst die Kernfächer Deutsch und Mathe im Abitur durch sogenannte Profilfächer ersetzen. 

Offiziell aber nähern wir uns doch einem bundesweit einheitlichen Zentralabitur. 

Klein: Das ist nichts anderes als Augenwischerei, um die aufkommende Kritik am Niveau und der Vergleichbarkeit der Zentralabiture der einzelnen Bundesländer zu beschwichtigen. Die Bundesländer können Aufgaben aus dem Aufgabenpool des „Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ in Berlin in den Fächern Englisch, Deutsch und Mathematik entnehmen – müssen das aber nicht. Aber selbst wenn sie es tun, schlägt sich dies mit nicht einmal fünf Prozent auf die Gesamtabiturnote nieder.

Warum sind nicht alle Bundesländer an einer einheitlichen Lösung für Unterricht und Abitur interessiert?

Klein: Je nach politischer Führung haben die sich als oberstes Ziel gesetzt, fehlende Chancengleichheit durch Ergebnisgleichheit zu ersetzen. Fachlich anspruchsvolle Aufgaben würden es in weite Ferne rücken, dies zu erreichen. Man betont andere Ziele von Schule und Unterricht, etwa Bildungsbiographien benachteiligter Schüler vor allem bildungsferner Schichten „umzusteuern“, wie kürzlich in der Zeit zu lesen war. Der klassische Fachunterricht wird dabei zu Grabe getragen.

Hat der Einwandererzustrom seit 2015 die teilweise prekäre Lage verschärft?

Klein: Grundsätzlich können Migranten aus bildungsnahen Schichten mit nachweisbarem Hochschulabschluß oder als gut ausgebildete Fachkräfte eine Gesellschaft auch in wirtschaftlicher Hinsicht bereichern. Kanada zeigt etwa, wie eine Auswahl unter diesen Aspekten Chancen für eine gelungene Integration zur Folge haben könnte. Die unkontrollierte Einwanderung aus bildungsfernen oder gar bildungsresistenten Schichten ist das eigentliche Problem und stellt Schulen und Lehrer zunehmend vor kaum lösbare Aufgaben. Fachunterricht durchzuführen ist in den letzten Jahren in Brennpunktschulen, längst nicht mehr nur der Großstädte, kaum noch möglich. 

Sie beklagen insbesondere das fallende Niveau der Hochschulen. Was ist die Ursache?

Klein: Sinkt die fachliche Qualität des Abiturs kontinuierlich, betrifft dies natürlich auch die Hochschulen, die Abnehmer der meisten Abiturienten. Wenn im kompetenzorientierten Matheunterricht Grundrechenarten nicht mehr geübt oder vom Taschenrechner übernommen werden, darf man sich über hohe Abbruch- und Durchfallquoten an den Hochschulen nicht wundern. 

Was sind die Folgen dieser Entwicklung?

Klein: Die Hochschulen würden sich gerne von rund einem Viertel dieser eigentlich studierunfähigen Abiturienten trennen, wenn sie dürften. Stattdessen müssen sie Brückenkurse für nicht studierfähige Abiturienten anbieten. Hier muß dann der Stoff sogar der Mittelstufe nachgeholt werden, der eigentlich in der Schule hätte vermittelt werden müssen.

Wenn Durchfall- und Abbruchquoten hoch sind, dann „verramschen“ Schulen und Hochschulen ihre Abschlüsse doch offenbar nicht. Sie aber werfen der Politik vor, diese zu „Zertifizierungsdiscountern“ gemacht zu haben. Widersprechen Sie sich da nicht? 

Klein: Keineswegs. Hohe Abbruch- und Durchfallquoten sind der Politik ein Dorn im Auge. Die klammen Hochschulen lassen sich durch Prämien von rund 4.000 Euro pro Studierendem von der Politik korrumpieren. Als Gegenleistung wird dafür die Verleihung des Bachelor in der Regelstudienzeit verlangt, andernfalls gibt es keine Prämie. 

In Ihrem Buch prangern Sie weitere schwerwiegende Fehlentwicklungen wie die Zunahme von Plagiaten an.  

Klein: Schon 2004 wiesen unabhängige Studien nach, daß bis zu fünfzig Prozent der Hausarbeiten hohe Plagiatsanteile enthalten. Spätestens nach dem Fall Guttenberg 2011 hätten die deutschen Hochschulen reagieren müssen. Dazu hätte man als wirksame Prophylaxe alle Hochschulen zum Einsatz einer professionellen Plagiaterkennungssoftware für alle abgegebenen Arbeiten verpflichten müssen, wie das nicht nur in den USA eine Selbstverständlichkeit ist. Doch auch hier: Fehlanzeige!

Auch „Ghostwriting“ soll in den letzten Jahren verstärkt zugenommen haben. 

Klein: Die parallel zur Bachelorisierung der Studiengänge wie Pilze aus dem Boden geschossenen Agenturen beschäftigen Dutzende von spezialisierten akademischen Ghostwritern, die gegen hohe Geldbeträge die Erstellung schriftlicher Arbeiten übernehmen. Die öffentlichen Ausführungen von Ghostwritern sollten zu denken geben: Gäbe es übersichtliche Seminare, echte Dialoge, angemessene Betreuungsverhältnisse oder irgendein Verantwortungsgefühl, würde dieser Betrug auffallen. Als Folge linkspopulistischer Hochschulpolitik, so ein anonymer Ghostwriter, seien die Hochschulen chronisch unterfinanziert. Wer deren soziale Öffnung betreibe, sollte auch einen substantiellen Finanzierungsplan besitzen, um den gigantischen Zuwachs an Studenten abzufedern. Chapeau! Genauso ist es. Die Chance, damit aufzufallen, liegt bei null Prozent! „Ein Gespenst geht um an den Universitäten“ titulierte die Neue Zürcher Zeitung diese Entwicklung schon 2011.

Im Buch warnen Sie vor einer „Wissenschaft, die sich selbst abschafft“. Was ist das?

Klein: Auch die Zahl der Dissertationen hat sich in den letzten fünfzehn Jahren nahezu verdoppelt und mittlerweile die Zahl von 30.000 pro Jahr überschritten. Wir machen uns international lächerlich! Auch das geht nur mit deutlich abgesenkten Anforderungen. Mittlerweile können Sie in vielen Fächern kumulative manuskriptbasierte Dissertationen abgeben.

Bitte was?

Klein: Um den Output zu erhöhen, reicht es heute aus, wenn Sie drei Manuskripte – die je nach Promotionsordnung nicht einmal vom Verlag als Publikation angenommen sein müssen – mit einer kleinen Einleitung als Doktorarbeit abgeben. Auch können diese Manuskripte viele Co-Autoren ausweisen, also faktisch eine Gruppenarbeit darstellen. Die Anzahl eigener wissenschaftlicher Arbeiten wird dadurch künstlich erhöht, weil man bei den Arbeiten der Co-Autoren ebenfalls namentlich berücksichtigt wird. 

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch vom „Predatory Publishing“. 

Klein: Predatory Publishing oder auch „räuberisches Veröffentlichen“ ist ein betrügerisches Geschäftsmodell bestimmter Online-Verlage, die sich den auf den Wissenschaftlern lastenden Druck des „Publish or perish“ – „Publiziere oder gehe unter“ – zunutze machen. Können sie ihre Arbeiten nicht unterbringen, bleibt ihnen nur noch die Publikation in diesen unseriösen Pseudojournalen. Gegen Geldbeträge ab vierhundert US-Dollar drucken die oft alles, was eingereicht wird – selbst Nonsens-Texte. „Pay to publish“ ist hier das Motto. Ein lukratives Geschäft mit rund 75 Millionen Dollar Jahresumsatz.

Gibt es denn Beweise, daß auch deutsche Forscher Pseudojournale nutzen?

Klein: Natürlich ist das längst in Insiderkreisen bekannt. 2018 hatten WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung durch investigative Recherchen einen solchen Skandal aufgedeckt, an dem mehr als 5.000 Wissenschaftler namhafter deutscher Forschungsinstitute im Hochschul- und Wirtschaftssektor beteiligt waren.

Sie beklagen seit über zehn Jahren auch einen „Akademisierungswahn“ in Deutschland. Was genau verstehen Sie darunter?

Klein: Daß aus jedem „Furz“ ein Studiengang gemacht wird. Grund ist die Prophezeiung der OECD um die Jahrtausendwende, Deutschland büße bei weiter niedrigen Abiturienten- und Akademikerquoten bald seine Spitzenposition in der Wirtschaft ein. Zudem sei unser duales Ausbildungssystem antiquiert und müsse dringend akademisiert werden.

Stichwort duale Ausbildung: Sie warnen, diese werde durch „Mickymäuse“ zerstört. 

Klein: Michael Hartmann, Geschäftsführer des Deutschen Hochschulverbandes, hat die dahinterstehende Entwicklung gut beschrieben: Was einmal zwei Hauptseminare waren, wird heute in einen ganzen Studiengang gepackt. Ergebnis: Mittlerweile gibt es über 20.000 Studiengänge! Allein die Spezialisierung der rund 10.000 Bachelorstudiengänge versteht mit ihren blumigen Namen wie „Cruise Tourism Management“, „Accessoire Design“, „Culinary Arts“, „Dentalhygiene und Präventionsmanagement“, „Entrepreneurship“ etc. in ihrer perspektivlosen Vielfalt eigentlich niemand mehr. In den USA werden sie Mickymaus-Studiengänge made in Entenhausen genannt. 

Deutschland ist immer noch die viertgrößte Volkswirtschaft. Wie paßt das zusammen?

Klein: Man muß bedenken, daß sich Veränderungen im Bildungswesen erst fünfzehn bis zwanzig Jahre nach ihrer Einführung in Wirtschaft und Gesellschaft bemerkbar machen. Wegen der verfehlten Bildungspolitik der letzten zwanzig Jahre herrscht derzeit ein Fachkräftemangel in bisher nicht gekanntem Ausmaß, der sich schon in naher Zukunft nachhaltig auf das Bruttosozialprodukt auswirken wird. Alle dreißig Dax-Unternehmen zusammen – davon 27 aus der „Old Economy“, teilweise mit deutlichen Erosionserscheinungen – haben nicht einmal den Börsenwert von Apple. Wir haben den Anschluß an die New Economy gegenüber unseren Konkurrenten fast schon uneinholbar verloren! 

Die deutschen Universitäten gehören aber immer noch weltweit zu den besten. Hier sollten doch die Innovationen herkommen.

Klein: Das wäre schön. Im aktuellen Academic Ranking of World Universities von 2019 belegen nach wie vor acht US- und zwei englische Elite-Universitäten die ersten zehn Plätze. Unter den ersten einhundert befinden sich mit Heidelberg, der TU München und Bonn aktuell nur drei auf mittleren oder hinteren Plätzen. 

Aber wir haben doch mittlerweile auch Exzellenzuniversitäten.

Klein: Ja, auf dem Papier. Die jährlich nicht einmal 500 Millionen Euro, die über einen Zeitraum von sieben Jahren einigen Universitäten zukommen, erhält in Harvard einer der sieben Fachbereiche im Jahr, so deren Präsident John Hennessy in einem Interview mit der Zeit. Wer in der wissenschaftlichen Champions League mitspielen will, benötigt Spitzenpersonal, das genauso teuer ist wie das in der Fußball-Champions League. Stanford ist das Elite-Zentrum des Silicon Valley, in dem die Musik der Zukunft gespielt wird. Ähnliches haben wir nicht zu bieten. Die Gleichmacherei von nicht Gleichem auf unterem Niveau, die Vergabe von Zertifizierungen für alle zu Dumpingpreisen, die links­populistisch diskreditierte Elitebildung und eine nicht zu verantwortende Unterfinanzierung der deutschen Universitäten werden sich in naher Zukunft noch bitter rächen.  






Prof. Dr. Hans Peter Klein, ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften, Mitglied der Bildungskommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte sowie Mitbegründer der Gesellschaft für Bildung und Wissen in Frankfurt am Main, deren Geschäftsführer er lange war. Der Zellbiologe hat den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt inne und lehrte zuvor in Köln, Koblenz und am College of New Jersey in den USA. In den Medien meldet sich der Bildungsexperte immer wieder zu Wort, etwa in FAZ, Zeit, Welt, Neuer Zürcher Zeitung oder dem Deutschlandfunk. Zudem veröffentlichte er zum Thema zwei Bücher: „Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel“ (2016) sowie „Abitur und Bachelor. Wie ein Land seine Zukunft verspielt“ (2019). Geboren wurde er 1951 in Sinzig am Rhein, nahe Bonn.

Foto: Studenten am Ende: „ Wir haben den Anschluß fast schon verloren ... Gleichmacherei von nicht Gleichem auf unterem Niveau, Zertifizierungen für alle zu Dumpingpreisen, Unterfinanzierung und die linke Diskreditierung von Elitenbildung werden sich in naher Zukunft noch bitter rächen“ 

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