© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Erhöhte Sensibilität
Bundeswehr: In der Truppe wird verstärkt gegen Extremismus vorgegangen / Denunziation unter Kameraden nimmt zu
Christian Vollradt

Ob der Fall des unter Terrorverdacht stehenden Oberleutnants Franco A. oder Berichte über die angebliche Bildung rechtsextremer Netzwerke oder gar einer „Schattenarmee“ (JF 52/18-1/19): Die Aufgeregtheiten in jüngster Zeit sind an der Bundeswehr nicht spurlos vorbeigegangen. Seit Oktober vergangenen Jahres werden in einer eigens dazu eingerichteten Koordinierungsstelle für Extremismusverdachtsfälle (KfE) alle entsprechenden Vorgänge in der Truppe zentral erfaßt, damit so ein „koordiniertes Lagebild“ vorgelegt werden kann.

Insgesamt 743 Verdachtsfälle habe man im Jahr 2019 bearbeitet, die überwiegende Zahl – nämlich 592 Fälle – betreffe den Verdacht auf Rechtsextremismus. An zweiter Stelle rangiert der Islamismus mit 69 Verdachtsfällen, wegen linksextremistischer Umtriebe wurde der Militärische Abschirmdienst elfmal eingeschaltet. Eine kleine Zahl von 37 Fällen betraf Ausländerextremismus, also beispielsweise das Engagement für nationalistische, separatistische oder linksextreme ausländische Organistionen.

In 482 Fällen wurden 2019 neue Ermittlungen eingeleitet, die restlichen Fälle stammten noch aus den Vorjahren. Die Bundeswehr betont, daß Extremismus in ihren Reihen „keinen Platz“ hat. Aber das Ministerium legt auch wert auf die Einordnung der Größenverhältnisse: 

Von insgesamt 265.000 Bundeswehrangehörigen – unter ihnen knapp 81.000 zivile Angestellte – stünde nur eine Minderheit von lediglich 0,28 Prozent unter Extremismusverdacht. Daß seit 2017 ein Anstieg von Meldungen zu extremistischen Verdachtsfällen zu erkennen sei, weise auf die erhöhte Sensibilität in der Truppe hin. Das ist die positive Version der Bilanz. Die negative lautet, die Gefahr der Denunziation unter Kameraden habe enorm zugenommen (JF 16/19). 

Nach den Ermittlungen, ob die Verdächtigen tatsächlich extremistische Ansichten vertreten, ergaben sich vergangenes Jahr in 38 Fällen „Hinweise auf mangelnde Verfassungstreue“, die überwiegende Mehrzahl stammte aus dem rechtsextremen Spektrum (27 Fälle). Eindeutig als Extremisten erkannt wurden 14 Bundeswehrangehörige – darunter acht Rechtsextreme und vier Islamisten. Zwei Personen wurden als Reichsbürger identifiziert. Entlassen wurden 2019 insgesamt 49 Bundeswehrangehörige.

46 Entlassungen erfolgten wegen Rechtsextremismus, zwei wegen Islamismus, ein Soldat wurde als Linksextremist entlassen. Unterteilt nach Dienstgradgruppen waren vor allem Mannschaften betroffen (27), gehen mußten außerdem 16 Unteroffiziere sowie sechs Offiziere. Hinzu kamen 773 Reservisten, die wegen mangelnder Verfassungstreue oder wegen extremistischer Bezüge von ihrer Dienstleistungspflicht entbunden wurden. 

Bei der Bearbeitung der Verdachstfälle hat der Militärische Abschirmdienst (MAD) zudem eine neue mit Farben gekennzeichnete Systematik eingeführt. Demnach steht die Kategorie Gelb für die Aufnahme einer „Verdachtsfallbearbeitung“. Erweist sich der Verdacht aufgrund gesammelter Informationen als unbegründet, erhält die betreffende Person das Etikett Grün. Begründen die vorliegenden Erkenntnisse hingegen eine fehlende Verfassungstreue, fällt der Betreffende unter die Kategorie Orange, es wird dann weiter ermittelt. Kategorie Rot bedeutet, daß aufgrund vorliegender Erkenntnisse die betreffende Person als Extremist einzustufen ist.

Wann aber liegt fehlende Verfassungstreue vor?

In knapp der Hälfte aller Fälle konnte in der Vergangenheit ein Verdacht ausgeräumt werden. Wegen des „niedrigschwelligen“ Einschreitens und der „vertieften“ Bearbeitung werde, so die Prognose der KfE, die Zahl „offener“ Verdachtsfälle (Kategorie Gelb) weiter steigen. 

Nicht vollkommen klar ist, wann bereits die fehlende Verfassungstreue oder gar Extremismus vorliegen. So heißt es im Bericht der KfE beispielsweise, es gebe „im rechtsextremistischen Spektrum neue Entwicklungen“. Dabei spiele die „Ideologie der sog. ‘Neuen Rechten’ eine besondere Rolle“. Protagonisten seien die „Identitäre Bewegung“, „Ein Prozent – Für unser Land“, die „Junge Alternative“ sowie „Der Flügel“ der Alternative für Deutschland (AfD). 

Welche Voraussetzungen müssen demnach erfüllt sein, damit jemand als Rechtsextremist eingestuft wird? Reicht möglicherweise schon die Mitgliedschaft oder das Engagement in einer Organisation, die ein einzelnes Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet? In einem konkreten Fall hat es diesen Anschein. So heißt es in einem Schreiben aus der Bundeswehr über einen Offizier, es lägen dem Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst „vorhaltbare Erkenntnisse mit Bezug zum Extremismus vor“.

Der Betreffende sei Mitglied des Landesvorstands der Jungen Alternative Sachsen-Anhalt, also der Jugendorganisation der AfD.  Beim JA-Landesverband Sachsen-Anhalt handele es sich gemäß der Bewertung des dortigen Landesamts für Verfassungsschutz „um eine verfassungsfeindliche Bestrebung, mithin um ein Beobachtungsobjekt“. Und dann folgt: „Aufgrund dieser Erkenntnisse“ werde der Soldat „als Rechtsextremist in der Bundeswehr bewertet“. Das bedeutet: Kategorie Rot. Von anderen Erkenntnissen über den Betreffenden ist in dem Schreiben nicht die Rede, weder von Äußerungen noch Handlungen. In der Konsequenz gilt dann, was ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums vergangene Woche so formulierte: „Wenn ein Mitglied der Bundeswehr, ein Soldat, durch den MAD als Extremist erkannt worden ist, dann zieht das in der Regel die Entlassung nach sich.“ 

Auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT beim Ministerium hieß es: „Die Zuweisung einer Kategorie folgt keinem Automatismus.“ Für die Einstufung in die Kategorie „Extremist“ (Rot) seien „tatsächliche Anhaltspunkte“ für extremistische Bestrebungen bestimmend. „Diese resultieren aus Handlungen und Verhaltensweisen der jeweiligen Person“, teilte ein Ministeriumssprecher mit und betonte: „In der Praxis ist nicht ein Umstand allein bestimmend, vielmehr ist die Gesamtheit der vorliegenden Erkenntnisse maßgebend.“ Tatsächlich können bei Beamten – und analog Offizieren – gemäß eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts von 1986 herausgehobene Funktionsämter in einer Partei oder Organisation, die als verfassungsfeindlich eingestuft wurde, „Zweifel an der Verfassungstreue begründen und zur Einleitung disziplinarischer Maßnahmen führen“.

Und in der Bundeswehr gilt, daß bei extremistischen Betätigungen „regelmäßig der Verdacht einer schuldhaften Pflichtverletzung“ vorliegt. In seiner Antwort auf die JF-Anfrage betont ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, daß „bei der Bewertung der jeweiligen Person alle zu ihr vorliegenden Erkenntnisse berücksichtigt“ werden. Und auch bei der Frage nach einer Entlassung beziehungsweise Entfernung aus dem Dienstverhältnis „kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalles an“.