© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Corona-Hilfen durchaus möglich
Schuldenbremse: Eine generelle Aufhebung würde gegen das Prinzip der Generationengerechtigkeit verstoßen
Dirk Meyer

In weiser Voraussicht ließ sich Odysseus an den Mast seines Segelschiffes binden. Er wollte nicht dem Gesang meist weiblicher Fabelwesen erliegen und so auf ein Riff laufen. Ganz ähnlich sind Verfassungen Instrumente der Selbstbindung. Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat oder gar Änderungsausschlüsse (Artikel 79 Grundgesetz, GG) stellen einen Schutz gegen (vor)schnelle Korrekturen des Grundgesetzes dar. Dies verhindert eine Kurzsicht zu Lasten künftiger Gestaltungsspielräume.

Die 2009 eingeführte „Schuldenbremse“ (Artikel 109 Absatz 3 GG) ist so eine Selbstbindung, um unter anderem der Generationengerechtigkeit Sorge zu tragen. Der US-Philosoph John Rawls (1921–2002) formulierte das zugrundeliegende Problem: Wie läßt sich eine gesellschaftliche Ordnung vereinbaren, so daß „langfristig und generationenübergreifend ein faires, leistungsfähiges und produktives System der sozialen Kooperation aufrechterhalten werden kann“?

Zentrale Bausteine einer Lastenteilung zwischen den Generationen sind Investitionen einerseits und Kredite andererseits. Da jede Generation im günstigen Fall von den Zukunftsanstrengungen ihrer Vorgängergeneration einen Nutzen zieht, wäre bereits eine Abkehr von der Leitlinie einer Nettoinvestition (Bruttoinvestition abzüglich Abgänge/Verschleiß) von Null – nach oben wie nach unten – begründungsbedürftig.

Hoher kommunaler Investitionsrückstand

Dies rechtfertigt zugleich den zentralen Satz der deutschen „Schuldenbremse“: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ – dazu darf noch eine Neuverschuldung von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufgenommen werden. Bestrebungen zur Aufweichung oder gar Abschaffung dieser Regel kommen aus verschiedenen politischen Richtungen – von den Linken, der SPD, den Grünen, den Gewerkschaften und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bis hin zum Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln sowie dem Industrieverband BDI.

Zwei Gründe werden angeführt: Erstens wird ein insbesondere auch kommunaler Investitionsrückstand hervorgehoben. Gemäß KfW-Kommunalpanel beträgt allein der Investitionsstau bei Städten und Gemeinden 138,4 Milliarden Euro (2019). Das IW bezifferte vergangenes Jahr den Nachhol- und Modernisierungsbedarf für die nächsten zehn Jahre auf 450 Milliarden Euro.

Zweitens seien die derzeitigen Rahmenbedingungen für eine weitere Neuverschuldung denkbar gut. Die deutsche Staatsschuldenquote lag im Februar bei 58,4 Prozent und damit unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent. Da der nominelle Durchschnittszins deutscher Staatsschulden mit derzeit 1,49 Prozent niedriger ist als die nominelle Wachstumsrate von 2,75 Prozent sinkt die Staatsschuldenquote ohne eine Neuverschuldung. Nach Abzug der Zinszahlungen bleibt dem Staat ein Kreditspielraum, ohne daß die Schuldenquote steigt. Rein rechnerisch – denn die so finanzierten Investitionen müssen sinnvoller/rentierlicher sein, als sie es bei privater Mittelverwendung wären.

Darüber hinaus können langfristig negativ wirkende Effekte des demographischen Wandels (geringere Rate des technischen Fortschritts, soziale Versorgung), konjunkturelle Rückläufe und „Schwarze Schwäne“ wie die Weltfinanzkrise (2008), die Euro-Staatsschuldenkrise (2010) oder aktuell Coronavirus-Epidemie die guten Aussichten zunichte machen. Schließlich ist die 60-Prozent-Staatsschuldenquote kein Ziel-, sondern ein Grenzwert, zu dem ein Sicherheitsabstand geboten ist.

Gesamtschuldnerische Haftung bei Euro-Bonds

Finanzminister Olaf Scholz (SPD) will aktuell die Kommunen entschulden und Kassenkredite von bis zu 42 Milliarden Euro übernehmen. Zudem will er auch im Zuge der Corona-Krise „dafür sorgen, daß immer genügend Liquidität für die Wirtschaft zur Verfügung steht“. Das IW wirbt seit Monaten für einen kreditfinanzierten „Deutschlandfonds“ in Höhe von 450 Milliarden Euro – verteilt über zehn Jahre als Sonderhaushalt, neben der „Schuldenbremse“ (JF 45/19). Anträge im Bundestag von Linken und Grünen drängen auf eine entsprechende Grundgesetzänderung.

Gemäß IW-Direktor Michael Hüther würde ein „Investitions- und Innovationsrat“ als eigenständig handelndes Gremium die Auswahl der Projekte steuern und bewerten: „DDR-light“ mit zentralwirtschaftlicher Lenkung unter Selbstentmachtung des Parlaments. Der Kreditspielraum von 0,35 Prozent der „Schuldenbremse“ kann dann für konsumtive und umverteilende Zwecke und somit ohne Mehrwert für künftige Generationen genutzt werden.

Doch nicht nur Deutschland hat Aufholbedarf. Die EU-Kommission trommelt zum „Green Deal“ (JF 6/20). Zum Ausbau europaweiter Strom- und Bahnnetze schlägt Hüther einen EU-Investitionsfonds vor, der über die Europäische Investitionsbank (EIB) zu finanzieren wäre. Mit der Ausgabe von „gemeinsamen Bonds“ (EU-Anleihen) würden zugleich sichere Kapitalanlagen bereitgestellt, für die durchaus eine hohe Nachfrage besteht. Das Problem: Nur Eurobonds mit gesamtschuldnerischer Haftung aller Mitgliedstaaten wären hinreichend sicher – eine Sicherheit, für die vorrangig Deutschlands Bonität genutzt würde. Und sollte dann der Euro-Rettungsschirm ESM eingebunden werden, würden die aufgrund von Kreditausfällen notwendigen Kapitalerhöhungen unter den Investitionsbegriff fallen – ein perpetuum mobile.

Es spricht daher viel dafür, an der „Schuldenbremse“ festzuhalten. Nicht nur, daß ihre Bewährungsprobe noch aussteht, denn für die Jahre 2016 bis 2018 weist das fiktive Kontrollkonto aufgrund guter Konjunktur einen Positivsaldo von 37,2 Milliarden Euro aus. Inklusive eines strukturellen Defizits von 0,35 Prozent wäre ein zusätzliches jährliches Investitionsvolumen von etwa 25 Milliarden Euro möglich gewesen.

Zudem besteht der größte Investitionsbedarf bei den Kommunen, die von der Schuldenregel gar nicht erfaßt werden. Ebenso wären ein Konjunkturpaket oder Corona-Hilfen an Firmen (Bürgschaften, Kurzarbeit) kreditfinanziert möglich – nur wäre der Defizitsaldo auf dem Kontrollkonto zeitnah zu tilgen. Schließlich könnten fehlende investive Mittel durch Umschichtungen aus dem Staatskonsum (Sozialleistungen) freigemacht werden. Doch dann wäre der Gürtel enger zu schnallen – warum, wenn es auch leichter über Kredit geht?






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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Steuersenkungen für Konsumausfälle?

Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) hält angesichts der Corona-Krise Liquiditätshilfen für notwendig. „Es ist wirtschaftspolitisch sinnvoll, ansonsten gesunden Unternehmen bei einem solchen unvorhersehbaren externen Schock-Ereignis unter die Arme zu greifen“, erklärte IfW-Präsident Gabriel Felbermayr. Überbrückende Maßnahmen seien geeignet, einen übermäßigen Anstieg der Arbeitslosigkeit oder Firmenpleiten zu verhindern. Das Vorziehen der Soli-Abschaffung wäre prinzipiell zu begrüßen, dies würde aber mit Blick auf die Konsumausfälle durch den Corona-Virus wenig helfen: „Dies gilt auch für andere Hilfen, die die Nachfrage stützen sollen. Denn es ist ja nicht so, daß die Menschen weniger konsumieren, weil ihnen Geld fehlt, sondern weil sie aus Angst vor Ansteckung nicht in Geschäfte gehen oder reisen“, erläuterte der Wirtschaftspolitik-Professor von der Uni Kiel. „Durch Steuersenkungen die Nachfrage anzuheizen ist ein wenig zielgenaues Mittel, dessen Wirkung in dieser Situation zweifelhaft ist.“ (fis)