© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Gysis späte Rache
Vor 30 Jahren: Bei der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR überrascht Kohls Allianz für Deutschland alle
Paul Leonhard

Der Bürgerrechtler und Pfarrer Rainer Eppelmann, eines der  bekanntesten Gesichter der Wendezeit, charakterisierte  rückblickend die Volkskammerwahlen in der DDR vom 18. März 1990 so: „Das erste Mal eine Wahl, von der ich annehmen konnte: frei, demokratisch, ohne Betrug.“ An dieser beteiligen sich 93,4 Prozent der knapp 12,5 Millionen Wahlberechtigten, und diese bescheren allen Wahlforschern einen herben Schlag. Nicht die als haushoher Favorit gehandelten Sozialdemokraten, neu gegründet als Gegenstück zur Sozialistischen Einheitspartei (SED), sondern die von Bundeskanzler Helmut Kohl geschmiedete „Allianz für Deutschland“ aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch gewinnt. Deren Wahlslogans „Nie wieder Sozialismus“ und „Keine sozialistischen Experimente“ sprechen fast der Hälfte der Wahlberechtigten aus dem Herzen.

Daß 48,1 Prozent für die Allianz stimmen, ist vor allem Bundeskanzler Helmut Kohl zu verdanken, der nach seinem Auftritt vor der Dresdner Frauenkirchenruine im Dezember 1989 ohne Wenn und Aber die Wiedervereinigung Deutschlands innen- und außenpolitisch vorantreibt.

Stasi-Enthüllungen belasten die politische Arbeit  

Das Vertrauen der Bürger zu gewinnen ist das wichtigste Ziel in den sieben hektischen Wahlkampfwochen, zumal die Volkskammerwahlen, die ursprünglich am 6. Mai stattfinden sollten, wegen der anhaltenden Abwanderung nach Westdeutschland um fast zwei Monate vorverlegt werden. Das Heft des Handelns übernehmen dabei die westdeutschen Parteien, die Bündnisse schließen.

Die Sozialdemokraten kümmern sich um ihre Genossen in der DDR, die Liberalen erfreuen sich an dem reichen Immobilienbesitz von LDPD und NDPD und nehmen deren bisher der SED ergebenen Funktionäre unter ihre Fittiche. Die CDU führt die ebenso SED-hörige Ost-CDU. Die West-Grünen engagieren sich bei der in vielfältige Gruppierungen gespaltenen Umwelt- und Friedensbewegung, die CSU kümmert sich um die neugegründete DSU. 

Die Bürgerrechtsbewegung, die sich als Urheber der friedlichen Revolution versteht und vom eigenen Volk im Stich gelassen fühlt, vereinigt sich im Bündnis 90.

Allein die zur PDS mutierte SED steht allein und bereitet sich auf ein Überleben in der Opposition vor. An der Auflösung des von ihr gegründeten Staates und allen damit verbundenen Verwerfungen will sie offiziell nicht beteiligt sein.

Es besteht kein Zweifel: Die übergroße Mehrheit der im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat eingesperrten Deutschen will die einmalige historische Chance auf Freiheit und Wiedervereinigung nutzen und pfeift auf die von Linken, Sozialdemokraten und Bügerrechtsgruppen favorisierte Reform der DDR.

Auch aus heutiger Sicht ist es sicher richtig, daß die Wahlsieger eine große Koalition mit der SPD, die auf 21,8 Prozent kommt, und den Liberalen bilden. Vor den Abgeordneten der sich am 5. April 1990 konstituierenden Volkskammer und dem eine Woche später zum Ministerpräsidenten gewählten Lothar de Maizière (CDU) und seiner Regierung steht ein enorme Aufgabenfülle. In kürzester Zeit, letztlich sind es 173 Tage, müssen eine Kommunalverfassung verabschiedet (17. Mai), ein Verfassungsgrundsätzegesetz (17. Juni) und vor allem der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (18. Mai) mit der Bundesrepublik ausgearbeitet und beschlossen werden. Außerdem laufen die Verhandlungen mit den Siegermächten über den künftigen Status eines wiedervereinigten Deutschlands.

Überschattet ist die politische Arbeit der neuen DDR-Regierung durch immer neue Stasi-Enthüllungen, die westdeutschen Medien zugespielt werden und die für großes Mißtrauen in der Bevölkerung sorgen. Als Reaktion bildet die Volkskammer am 21. Juni einen Sonderausschuß zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. der Nachfolgeeinrichtung, des Amtes für Nationale Sicherheit. Vorsitzender wird der Pfarrer Joachim Gauck.

Während sich die Öffentlichkeit über die Stasi-Praktiken echauffiert, verliert sie den Auftraggeber der Tschekisten aus den Augen. Die SED, die 16 Prozent bei den freien Volkskammerwahlen erhielt und damit mehr als Kommunisten jemals nach 1933 – bei den Bundestagswahlen 1949 waren es 5,7 Prozent –, formiert sich unter Gregor Gysi mit dem Namen „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) neu.

Mißglückt ist ihr zuvor, die Allianz für Deutschland zu spalten, indem sie drei Tage vor der Volkskammerwahl den Rechtsanwalt und Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, als Stasi-Agenten enttarnen läßt. 

Die Lektion, die die PDS-Führung daraus zieht, ist, daß die DDR-Bürger allein auf Kohl fixiert sind, das Ostpersonal also keine Rolle spielt. So schadet später auch DDR-Regierungschef de Maizière der Verdacht nicht, als IM Czerni für die Stasi gearbeitet zu haben. Wirksamer ist dagegen der Schlag gegen die SPD. Auch ihr Vorsitzender Ibrahim Böhme muß wegen seiner Enttarnung als Stasi-IM alle Parteiämter niederlegen.

Schon damals vermuten viele, daß es die SED ist, die mit einer kunstvoll inszenierten Hexenjagd von sich selbst ablenkt. Wenn ein Stasi-Informant nicht Mitglied der Volkskammer sein könne, so seinerzeit Wolfgang Schäuble als Bundesinnenminister, dann dürfe die „PDS überhaupt nicht in der Volkskammer sitzen“. 

PDS beginnt Marsch durch die Institutionen im Westen  

Allerdings plädiert Schäuble damit nicht für ein Verbot der umbenannten SED, sondern für ein Ende der Stasi-Überprüfungen der Volkskammerabgeordneten. Doch da sind die DDR-Bürger anderer Meinung.

Wie wirksam die Stasi als „Schild und Schwert der Partei“ die politische Landschaft infiltriert hat, zeigt sich spätestens, als die die linke Berliner tageszeitung von den Ergebnissen des Prüfungsausschusses der Volkskammer berichtet. Danach haben von den 400 Abgeordneten mindestens 59 für die Stasi gespitzelt: 35 Abgeordnete der CDU, je elf von PDS und FDP und zwei von der Grünen Partei. Zu denjenigen, denen der Ausschuß nach Akteneinsicht eine sofortige Mandatsniederlegung empfiehlt, gehören die Minister Axel Viehweger (FDP), Karl-Hermann Steinberg (CDU), Manfred Preiß (FDP) sowie vier Abgeordnete der CDU, drei der PDS und je zwei von FDP und SPD. Wirtschaftsminister Gerhard Pohl (CDU) hat zu diesem Zeitpunkt bereits wegen MfS-Tätigkeit sein Mandat niedergelegt. Auch die Minister Rainer Eppelmann und Klaus Reichenbach (DA und CDU) werden in Karteikarten der Stasi geführt, aber vom Prüfungsausschuß als „bereits offiziell entlastet“ bewertet.

Noch nicht bekannt ist damals, daß auch unter den nach dem Herbst 1989 der DDR-Regierung auf Druck der Bürgerbewegung zur Seite gestellten Mitgliedern der „Runden Tische“, die die freien und demokratischen Wahlen vorbereiten sollen, viele Stasi-Spitzel sind.

Gleichzeitig ist es für die Strategen der PDS höchste Zeit, Plan B umzusetzen: die Infiltration der Bundesrepublik nicht nur durch ein paar hundert Agenten, sondern durch einen Marsch durch die Institutionen, wie es die westdeutschen Achtundsechziger seit gut zwei Jahrzehnten propagieren. Die Ausgangslage ist günstig. Die SED ist nicht verboten – lediglich der ihr ergebene Geheimdienst ist geopfert worden –, hat wie ein Krebsgeschwür in allen Teilen der Gesellschaft seine Metastasen hinterlassen. Die Verwaltung in den neuen Bundesländern, an den Hochschulen und selbst bei den Sicherheitsorganen bleibt ohnehin mehrheitlich von ehemaligen Genossen besetzt.

Neben der Sicherung des SED-Eigentums im Ausland geht es für die Genossen darum, die Glaubwürdigkeit der neuen Parteien zu erschüttern, in einem zweiten Schritt die Demokratie insgesamt in Frage zu stellen und danach  Stück für Stück die verlorene (oder aufgegebene) Macht zurückzuerobern. Daß die Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ausgerechnet im bisherigen Gebäude des SED-Zentralkomitees beschließt, hat geradezu symbolischen Charakter: Jetzt ist der Weg frei für die Kommunisten, sich aus der von ihnen heruntergewirtschafteten DDR ganz offiziell im Westen auszubreiten. Zum erstenmal seit 1949 sitzen sie am 4. Oktober 1990 als „Gruppe der PDS“ im Deutschen Bundestag. Sie gehören zu den 144 laut Einigungsvertrag übernommenen Volkskammerabgeordneten. Noch gelten die Genossen zwar in breiten Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft als nicht salonfähig, aber nach ein paar Wandlungen des sich immer wieder neu verpuppenden Krankheitsträgers SED wird sich auch das ändern.

Es muß nur „demokratisch aussehen“ 

In den Folgejahren schafft es eine ehemalige FDJ-Sekretärin, die einstige Partei Konrad Adenauers zu entern und als CDU-Chefin und Bundeskanzlerin dem politischen Establishment der Bundesrepublik einen Linksdrall zu verpassen, von dem selbst Walter Ulbricht nicht zu träumen wagte. Der hatte seinem Lehrling Wolfgang Leonard im Mai 1945 noch geraten: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“

Die CDU habe „überhaupt kein Problem damit, Parteifreunde mit SED-Vergangenheit bis in höchste Ämter und Positionen zu hieven“, so der Parteienforscher Michael Lühmann vom Göttinger Institut für Demokratieforschung gegenüber web.de: „Personell ist die CDU ein ganzes Stück weit Nachfolgepartei nicht nur der Ost-CDU, sondern auch der SED.“

Dies betrifft beispielsweise die Thüringer CDU-Europaabgeordnete Marion Walsmann, die von 1986 bis 1990 in der Volkskammer saß. Der CDU-Vizepräsident des Erfurter Landtags, Henry Worm, war von 1982 bis 1989 Mitglied der SED. Svend-Gunnar Kirmes, SED-Mitglied von 1971 bis 1989, ist derzeit als CDU-Abgeordneter Alterspräsident im Sächsischen Landtag.