© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

CD-Kritik: Alexandre Tharaud
Spiegelgalerie
Jens Knorr

Wie edle restaurierte Holztüren, unter deren Lasur sich Spuren aller vorherigen Farbschichten finden, so erscheinen die Stücke französischer Komponisten aus der Zeit des Ancien régime, nicht auf dem Cembalo oder der Orgel gespielt, wie sie in den Sälen von Versailles erklungen haben mögen, sondern auf dem modernen Konzertflügel. Alexandre Tharaud tilgt diese Spuren nicht, er nimmt sie auf.

Der französische Pianist adaptiert Rameau und Couperin, Visée, Royer, d’Anglebert, Duphly, Balbastre und Lully für das Klavier des 21. Jahrhunderts. Er stellt sich in eine Aufführungstradition, die in Frankreich mit den Namen Louis Diémer, Robert und Gaby Casadesus, für Tharaud vor allen mit Marcelle Meyer verbunden ist: Stücke dieses Repertoires gegenwärtigen Hörern vermittels gegenwärtiger Instrumente zu vergegenwärtigen.

Tharauds virtuoses Spiel, das sich rauschhaft verschenken, tastend innehalten oder noch seinem eigenen Verlöschen nachhorchen kann, stellt die Räume erst her, die es mit einer Folge von Variationen, Ronden, Tänzen, Transkriptionen, gefügt zu einer geisterhaften Fantasie über barocke Themen, erfüllt. Diese „Hommage an eine andere Geschichtlichkeit“ (Théodora Psychoyou) gibt keines der Jahre verloren, die in und zwischen dem Notentext der barocken Meister ihre Farbspuren hinterlassen haben.

Alexandre Tharaud Versailles Erato 2019  www.erato.com  www.alexandretharaud.com