© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Eine Festung, die gar keine mehr war
Vor 75 Jahren fiel mit Kolberg die letzte deutsche Stadt in Hinterpommern / Große Evakuierungsaktion der Deutschen gelang
Thorsten Hinz

Die pommersche Hafenstadt Kolberg zählte 1939 etwa 35.000 Einwohner. Die alte Garnisonstadt mit – wie man sagte – „zehn Soldaten auf ein Mädchen“ war das sonnenreichste deutsche Ostseebad. Bis August 1944 herrschte noch Kurbetrieb. Wer aus dem bombengeplagten Westdeutschland hierher evakuiert wurde, dem mußten die Konzerte und Theateraufführungen, die weißen Betten und intakten Warmwasserleitungen in den Pensionen märchenhaft erscheinen.

Eine „Festung Kolberg“ aber, die durch die Literatur geistert, konnte es 1945 gar nicht geben. Die flache Küstenlandschaft bot keinerlei natürlichen Schutz gegen Panzer und Artillerie, und die Festungswerke waren bereits 1873 geschleift worden. Die Stadt besaß keine militärischen Anlagen, die sich für einen modernen Krieg eigneten. Im November 1944 war Kolberg lediglich zum „Festen Platz“ erklärt worden, wo indessen Festungsgesetze galten. Von den befohlenen drei Verteidigungsringen konnte nur der innere, der am Stadtrand entlangführte, notdürftig ausgebaut werden.

Groß war hingegen die symbolische Bedeutung Kolbergs. Seit dem 30jährigen Krieg hatte die Stadt mehrmals feindlichen Belagerungen getrotzt. Während der napoleonischen Kriege widerstand sie, angeführt durch Oberstleutnant Gneisenau und Bürgerrepräsentant Nettelbeck, von März 1807 bis zum Memeler Friedensschluß am 2. Juli einer erdrückenden französischen Übermacht. Mit abnehmendem Kriegsglück stieg im Zweiten Weltkrieg der Bedarf an propagandistisch ergiebigen Stoffen, um die Moral an der Heimatfront zu festigen. Das Bündnis zwischen Gneisenau und Nettelbeck, zwischen Militär und Volk, eignete sich aus der Sicht Goebbels’ als Vorbild für den totalen Krieg. 1943 gab er Regisseur Veit Harlan den offiziellen Auftrag für einen „Kolberg“-Film, der am 30. Januar 1945 in Berlin und der eingeschlossenen Atlantikfestung La Rochelle uraufgeführt wurde. Eine befeuernde Wirkung konnte er nach Lage der Dinge nicht mehr entfalten. In Kolberg wurde er erst gar nicht gezeigt.

Im Januar 1945 erreichten die ersten Trecks die Stadt. Bis März wurden 250.000 Flüchtlinge aus Ostpreußen durch Kolberg geschleust. Sie wurden notdürftig versorgt und per Schiff oder Eisenbahn weiter nach Westen geleitet. Die Einwohnerzahl stieg auf 85.000. Ende Januar 1945 erreichte die russische Front bei Fürstenberg und Küstrin die Oder. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Rote Armee sich nach Norden wenden und Hinterpommern, den langgezogenen Landstreifen entlang der Ostseeküste, erobern würde. 

Abwehrkampf diente nur der Rettung über die Ostsee

Kommandant Oberst Fritz Fullriede, ein Ritterkreuzträger, hatte am 1. März den beschleunigten Abtransport der Bevölkerung und der Flüchtlinge befohlen, doch die Kreisleitung zögerte die Evakuierung aus Angst vor der Gauleitung hinaus. Nur wenige Kolberger wagten es, sich auf eigene Faust zu entfernen. Den Kolberger Beamten war es noch am 3. März streng verboten abzureisen. An den Schulen wurde weiter unterrichtet. Erst in der Nacht zum 4. März wurde der Räumungsbefehl unterzeichnet, doch jetzt war es zu spät. Der russische Angriff hatte begonnen, der Ring um Kolberg schloß sich unaufhaltsam. Die Wege und Straßen waren mit Trecks und Autos verstopft.

Bis zum 10. März war ganz Hinterpommern in russischer Hand, nur Kolberg bildete einen einsamen Brückenkopf. 70.000 Menschen warteten auf den Schiffstransport nach Swinemünde, Rügen oder Kiel. Das Wasser wurde knapp, die Gasversorgung wurde gekappt, kurz darauf der Strom. Kommandant Fullriede standen 3.300 Mann abgekämpfte, schlecht bewaffnete Heerestruppen zur Verfügung. Panzer und Artillerie waren kaum vorhanden. Eine Ironie der Geschichte: Auch 300 Soldaten der französischen Waffen-SS-Division „Charlemagne“, die sich in der Stadt befand, meldeten sich spontan zur Verteidigung Kolbergs; nur 50 von ihnen überlebten. Die gegnerische Übermacht war gewaltig: Sie bestand aus drei Divisionen der 1. Polnischen Armee unter Führung des Generals Stanislaw ­Poplawsk, der 272. Schützendivision der Roten Armee, einer Panzerbrigade, einer Artilleriebrigade, einem Werferregiment mit „Stalinorgeln“ und verschiedenen Spezialeinheiten. Insgesamt 1.254 Geschütze und Granatwerfer waren auf Kolberg gerichtet. 

Oberst Fullriede ging es einzig um Zeitgewinn, um die Einwohner und Flüchtlinge auszuschiffen. Zweimal hatten die Russen ihn zur Kapitulation aufgefordert und den Soldaten Leben und anständige Behandlung zugesichert, nicht aber den Zivilisten. Noch am 9. März legte der überfüllte Passagierdampfer „Winrich von Kniprode“ mit 4.000 Flüchtlingen ab, auch Kutter, Fähren, sogar Segelboote kamen zum Einsatz. Verschwommene Fotos zeigen panische Menschentrauben, im Hintergrund lodern Brände. Das Wetter war oft stürmisch. Dennoch: Fast alle Flüchtlinge und bis auf knapp 400 Mann auch die kämpfende Truppe konnten sich über See absetzen. Am 18. März kapitulierte die Stadt, die zu einem Trümmerhaufen geworden war.

Am selben Tag tauchten einrückende polnische Soldaten die weiß-rote Fahne in die Fluten der Ostsee und feierten Polens Vermählung mit dem Meer.