© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Nationalismus mit Augenmaß
Deutschland oder Dänemark: Vor 100 Jahren orientierten sich die Zonen der Volksabstimmungen in Nordschleswig an jeweiligen Bevölkerungsmehrheiten
Oliver Busch

Obwohl während des Ersten Weltkriegs neutral, zählte Dänemark zu den Profiteuren des Versailler Vertrags. Erhielt das Königreich doch etwas von jenem Territorium zurück, das es nach dem verlorenen Krieg von 1864 an Preußen abtreten mußte. Und zwar den nördlichen Teil der 1867 neu entstandenen preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Dieses „Nordschleswig“ umfaßte das Gebiet zwischen der heutigen Bundesgrenze im Süden und der nördlichen Grenze des Deutschen Kaiserreichs, die von Osten nach Westen etwa zwischen Hadersleben und Ripen verlief. 

Wie vom Vertreter der dänischen Minderheit im Reichstag schon im Oktober 1918 gefordert, legten die Versailler „Friedensmacher“ Nordschleswig als Zone I eines Abstimmungsgebiets fest, das sich über „Mittelschleswig“ (Zone II zwischen Flensburg und Niebüll) weit hinaus bis zum Nord-Ostsee-Kanal (Zone III) erstreckte. In der Zone I begann die Volksabstimmung am 10. Februar 1920 mit einem klaren dänischen Sieg. 74 Prozent (75.400 Stimmen) der Bevölkerung wollte heim ins Königreich. Ausschlaggebend war dabei das „platte Land“, während es in den Städten wie Tondern, Apenrade und Sonderburg deutsche Mehrheiten gab. 

Die Lösung vermied einen latenten Grenzkampf

So wie in Nordschleswig der dänische Triumph erwartet worden war, so gewiß war der deutsche Gegenschlag in Zone II, wo es am 14. März 1920 zum Urnengang kam. 80,2 Prozent votierten für Deutschland, lediglich 19,2 Prozent für Dänemark. Nur in Flensburg, der Hochburg der regionalen dänischen Minderheit, auf die sich die Hauptstoßkraft ihrer Agitation konzentrierte, fiel das Ergebnis mit 24,8 Prozent (8.955 Stimmen) für sie etwas günstiger aus. Erstaunen löste in Kopenhagen die Option der während der Propagandaschlachten im Winter 1919/20 von dänischer Seite eifrig umworbenen friesischen Minderheit aus. Besonders auf den „vielumkämpften nordfriesischen Inseln“, so stellte Adolf Köster (SPD), der Abstimmungskommissar der Reichsregierung, mit Genugtuung fest, hielt der „Wall des Deutschtums“: Sylter (89 Prozent), Amrumer (86) und Föhrer (75) entschieden sich mit deutlicher Mehrheit für das Reich. Wittdün (Amrum) und Rantum (Sylt) wählten sogar geschlossen deutsch, ebenso einige Gemeinden auf dem Festland. 

Aufgrund der erdrückenden deutschbewußten Bevölkerungsmehrheit in Zone II stellte der Abstimmungssieg zwar keine Überraschung dar. Bemerkenswert ist aber, daß er in dieser Höhe ausfiel, obwohl der Kapp-Putsch vom 13. März in letzter Sekunde viel Wasser auf die dänischen Propagandamühlen leitete. Kaiser Wilhelm II., so verkündeten eilig gedruckte Plakate, sei schon auf dem Weg vom holländischen Exil nach Berlin, um mit „Junkern und Kapitalisten“ die Sozialreformen der Novemberevolutionäre zu stornieren. Die wahl­entscheidende, „kerndeutsche“ Flensburger Arbeiterschaft ließ sich dadurch jedoch nicht irre machen.

Als wichtigste Lehre aus den Schleswiger Plebisziten muß jedoch gelten, daß hier die mustergültige Entschärfung eines europäischen Nationalitätenkonflikts gelang. Vor allem die dänische Sozialdemokratie hatte sich Einflüsterungen des französischen Mephistos versagt, das gesamte alte Herzogtum Schleswig ohne Abstimmung zu beanspruchen. In Kopenhagen, wo außer den chauvinistischen Sektierern der Eiderdänen niemand in Zone III abstimmen lassen wollte, durchschaute man die Absicht Frankreichs, mit 200.000 Deutschen allein bis zur Schlei-Grenze, „die nie eine Spur dänischen Nationalgefühls gezeigt hatten“ (so der „ewige Außenminister“ Erik Scavenius), ein Irredenta-Problem zu schaffen, um Deutschland auch im Norden einen latenten Grenzkampf aufzubürden. 

Anders als die Polen, die an den deutschen Ostgrenzen Frankreich gern zu Diensten waren, als sie ihre enthemmten Expansionswünsche sogar auf fast hundertprozentig deutsche Städte wie Danzig oder den gesamten Süden Ostpreußens ausdehnten, bewiesen die Dänen im Frühjahr 1920 Nationalismus mit Augenmaß, zeigten sich fair, vernünftig und politisch weitsichtig.