© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Schuldfragen sind unangenehm
Der britische Autor Sinclair McKay hat sich in einer auf der Insel vielbeachteten Monographie der Zerstörung Dresdens 1945 gewidmet
Björn Schumacher

Sind die strategischen Flächenbombardements deutscher Städte eine „Vergangenheit, die nicht vergehen will“? Ernst Nolte prägte dieses Diktum für die fortgesetzte „Bewältigung“ des NS-Völkermords. Er bewertete ihn als von anderen Genoziden beeinflußten Teil der Totalitarismus-Geschichte, was im anbrechenden Zeitalter geschichtspolitischer Engführung mit dem Entzug wissenschaftlicher Reputation bestraft wurde.

Tatsächlich tobt um die Vernichtung Dresdens ein ähnlicher Historikerstreit. Er erfaßt die Opferzahl, den von Zeitzeugen bekundeten Tieffliegerbeschuß, die moralische und kriegsrechtliche Würdigung des britischen Doppelangriffs vom 13./14. Februar 1945 und die damit verknüpfte Frage nach einem deutschen Opferstatus. Angelsächsische Autoren beteiligen sich lebhaft an dieser Kontroverse. Dokumentiert wird das - neben militärgeschichtlichen Gesamtdarstellungen westalliierter Luftkriegführung - durch die historischen Studien David Irvings („Der Untergang Dresdens“, 1963) und Frederick Taylors („Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945“, 2005), aber auch durch Kurt Vonneguts Roman „Schlachthof 5 (oder) Der Kinderkreuzzug“ von 1969. 

Dazu gesellt sich neuerdings Sinclair McKays Monographie „Die Nacht, als das Feuer kam: Dresden 1945“. Wer von ihr Beiträge zu brisanten Debatten erwartet, dürfte sich allerdings enttäuscht abwenden. McKay schreibt regelmäßig Literaturkritiken. Er ist weder Geschichtsforscher, der die Thesen der Historikerkommission zu den Luftangriffen auf Dresden hinterfragt, noch Physiker, der mit Modellrechnungen zu Brandtemperaturen und Feuersturm die Existenz unbekannter Opfer belegen möchte. Die Richtigkeit der offiziösen Opferzahl von „höchstens 25.000“ wird ungeprüft vorausgesetzt. 

McKay interessiert sich auch nicht für ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht oder die Haager Landkriegsordnung von 1907. Das Thema „Kriegsverbrechen Dresden“ ist ihm unangenehm. Eine merkwürdige Begründung liefert er im Interview einer deutschen Sonntagszeitung: „Wer Dresden als Kriegsverbrechen bezeichnet, muß auch auf Hamburg, Kassel oder Pforzheim blicken. Waren das auch Kriegsverbrechen, und wenn nicht - warum nicht?“ 

Diese Argumentation ist nicht frei von Sophismus. McKay befrachtet ein überschaubares Streitthema mit unnötigem Beiwerk, um es hinter einer völkerrechtlichen Nebelwand verschwinden zu lassen. Sein Abwehrreflex beruht auf der Furcht, Tabuzonen zu betreten: „Eine solche Betrachtung führt einen außerdem ins Reich der Gleichstellung mit den Naziverbrechen.“ Damit sind wir bei der nächsten voreiligen Folgerung, denn der Autor vermengt hier die Begriffe Vergleich und Gleichstellung.

Passend dazu setzt er einen Seitenhieb gegen den „ganz rechten Flügel des politischen Spektrums, der erreichen will, daß Deutsche als Märtyrer eines Kriegsverbrechens angesehen werden“. Immerhin sieht McKay in der Auslöschung Dresdens eine „Greueltat“. Er folgt insoweit dem Philosophen Anthony C. Grayling, der „moral atrocities“ (Grausamkeiten) des Bomber Command schon 2006 beklagt und auf antike Denker verwiesen hatte: „Thukydides nannte den Angriff auf Zivilisten ein Verbrechen. Die politischen Führer in Großbritannien und die Militärs hatten Thukydides gelesen und wußten, was sie taten. (…) War Area Bombing notwendig? Nein. War es verhältnismäßig? Nein. Kurz zusammengefaßt: War Area Bombig Unrecht? Ja. Schweres Unrecht? Ja.“ 

McKays 560 Seiten starkes Buch gliedert sich in drei Abschnitte, in denen die politische und kulturelle Situation Dresdens Anfang 1945, die „Schreckensnacht“ selber sowie die Nachkriegsentwicklung bis zum Wiederaufbau der Frauenkirche beschrieben werden. Das Vernichtungsbombardement und seine unmittelbaren Folgen beleuchtet der Autor aus unterschiedlichsten Perspektiven. Damalige Schüler, Hitlerjugend- und Kreuzchor-Mitglieder kommen ebenso zu Wort wie Künstler, Musiker und Besatzungen britischer sowie US-amerikanischer Bomberstaffeln. 

Hervorgehoben sei das im Buch eindringlich verarbeitete Schicksal des jüdischen Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer (1881–1960), der Hilfsarbeitertätigkeiten verrichten und in Dresdner „Judenhäusern“ wohnen mußte. Seiner bevorstehenden Deportation entging er ausgerechnet durch die Wirren und Nachwehen des Terrorangriffs. Ungeachtet des ihm widerfahrenen Unrechts zeichnen Klemperers Tagebücher ein faires, wohlwollends Bild seiner nichtjüdischen Mitbürger. Menschliche Größe ist hier kein leerer Begriff.   

Die verständnisvolle Grundhaltung McKays ist stets präsent. Gleiches gilt für seinen ins Schwärmerische gleitenden Duktus. Beides dürfte Leser begeistern, die vor „harten Themen“ sonst zurückschrecken. Stilistische Kostprobe: „In der Altstadt erschallt überall Klassik, die von Straßenmusikanten dargeboten wird, untermalt vom zarten Widerklang der Chöre in den Kathedralen.“

In Großbritannien löste McKay ein lebhaftes Echo aus. Mit beachtlicher Tiefenschärfe besprachen die altehrwürdige Times und die meinungsstarke Londoner Wochenzeitung Spectator das Buch. Rezensent Christopher Priest lobte die „Rundum-Betrachtung“ der Dresdner Schicksalsnacht und McKays fakten- und quellensichere Analyse, tadelte aber auch dessen Ausweichen vor dem Thema „Capital Crime“. Auf breite Zustimmung, aber auch vereinzelte Appelle, endlich einen „Schlußstrich“ zu ziehen, stieß das Buch in Online-Foren. Ein Leser beklagte den Verlust moralischer Glaubwürdigkeit des Vereinigten Königreichs. McKays zentrale Botschaft liege darin, daß niemand diesen Krieg wirklich gewonnen habe.

Sinclair McKay: Die Nacht, als das Feuer kam. Dresden 1945. Goldmann Verlag, München 2020, gebunden, 560 Seiten, Abbildungen, 22 Euro






Dr. Björn Schumacher ist Jurist und Autor des Buches „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. ‘Morale Bombing’ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur“ (Graz 2008)