© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Spruchkammer der Nachgeborenen
Gegen Demokratie und Aufklärung – „eine Art Mentalitäten-Geschichte“. Eine weitere Biographie Martin Heideggers, die zeithistorisch auf Sparflamme kocht
Hartwig Krüger

Mehr als dreißig Jahre ist es her, seitdem der chilenische Soziologe Víctor Farías mit seinem monströsen Pamphlet „Heidegger und der Nationalsozialismus“ (1987) zur Attacke gegen einen, wenn nicht den wirkungsmächtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts blies. Inzwischen liegt eine uferlose Literatur zu diesem Thema vor, die gleichwohl leicht zu überschauen ist, da es sich überwiegend um ermüdend-monotone Anklageschriften handelt, deren Verfasser als Staatsanwalt und Richter in einer Person unterzeichnen.

Kein Wunder, daß der Ideenhistoriker Thomas Rohkrämer (Universität Lancaster) in der Einleitung zu seiner „politischen Biographie“ Martin Heideggers (1889–1976) naheliegendem Überdruß („Nicht schon wieder!“) vorbeugen möchte, wenn er verspricht, den Denker keineswegs als „ewigen Nazi“ traktieren zu wollen. Er wolle dessen Biographie stattdessen in Beziehung setzen zu „allgemeinen kulturgeschichtlichen Trends“ zwischen Kaiserreich und Bonner Republik. Er wolle damit „eine Art Mentalitäten-Geschichte“ liefern, die sich weniger um den Verfasser eines hundertbändigen philosophischen Œuvres und dessen „denkerische Originalität“ kümmere, als um den Repräsentanten und Opponenten des Zeitgeistes, der „Bedürfnisse und Sehnsüchte, Ängste und Defiziterfahrungen“ artikuliere, die sich zu dem porentief alle Lebensbereiche durchdringenden „Krisengefühl“ seiner Generation verdichteten.

In vier Kapiteln versucht der Autor Leben und Werk Heideggers zwecks wechselseitiger Erhellung mit der deutschen Geschichte in der Epoche der Weltkriege zu verweben. Es beginnt mit der „Suche nach der eigentlichen Existenz“ während der Weimarer Republik, die den Freiburger Privatdozenten aus „bildungsfernem Elternhaus“ zum „Philosophen der neuen Zeit“ aufsteigen ließ. Es folgen dann zwei Kapitel mit hundert Seiten, die, entgegen dem einleitenden Versprechen, den Denker als „nationalsozialistischen Aktivisten“ denn doch wieder in den Mittelpunkt der Darstellung rücken. Und auch das letzte Kapitel, das, eng angelehnt an David Morats Monographie (2008), den in den 1950ern noch breit rezipierten Neuzeit-Kritiker Heidegger auf dem Weg „Von der Tat zur Gelassenheit“ begleitet, bevor der „Charismatiker“ im Schatten von 1968 dann unzeitgemäß wurde.

Aber nicht nur quantitativ verraten die Proportionen der schmalen Studie, daß Rohkrämer sich nicht wirklich absetzt von der Mode, den „Nazi“ Heidegger vor die Spruchkammer der Nachgeborenen zu schleifen. Auch qualitativ, gerade im Kapitel über das NS-Engagement, vom Freiburger Rektoratsjahr 1933/34 bis zu den auf Hölderlin fixierten Kriegsvorlesungen mit ihrer „chauvinistischen Verherrlichung des deutschen Volkes“, enttäuscht er geweckte Erwartungen. Bedenkenlos repetiert er antifaschistische Klischees wie sie Buchmarkt und Feuilleton am laufenden Meter produzierten, seit 2013 die Edition von Heideggers Denktagebuch, der „Schwarzen Hefte“ begann. Er verkneift sich nicht einmal den Hinweis auf so läppisches Zeug wie die Zugehörigkeit Heideggers zum wissenschaftspolitisch irrelevanten Ausschuß für Rechtsphilosophie in der Akademie für Deutsches Recht, die man nur deshalb heftig skandalisierte, weil deren Präsident Hans Frank hieß, der zugleich Generalgouverneur im besetzten Polen war, so daß Heidegger über diese vermeintliche Kontaktschuld ein paar Millimeter weiter in Richtung Auschwitz geschoben werden konnte.

Immerhin verschweigt Rohkrämer nicht einen ihn offenbar verblüffenden Befund: „Das einzige wichtige Element der nationalsozialistischen Ideologie, das in seinen öffentlichen Aussagen keine explizite Rolle spielte, war der Antisemitismus.“ Auch in den „Schwarzen Heften“ gebe es, anders als es hysterische Reaktionen darauf suggerierten, nur wenige einschlägige Passagen. Weitergehende, in selbständige zeithistorische Feinanalysen mündende Irritationen in Sachen „Judenfrage“ lösen solche Beobachtungen bei Rohkrämer indes nicht aus. Stattdessen hält er es wie üblich für ratsamer, Heideggers Einlassungen pauschal auf „antisemitische Vorurteile und Stereotype“ zu reduzieren.

Auch sonst ist Rohkrämer eher nicht neugierig, reproduziert vielmehr seinerseits eifrig „Vorurteile“ über jene „kulturgeschichtlichen Trends“, bis hinab in politische Tagesaktualitäten, die den Resonanzboden für Heideggers Auseinandersetzung mit der Moderne bilden. Und seine zeithistorischen „Vorurteile“ bewegen sich in etwa auf dem volkspädagogischen Niveau der Bundeszentrale für politische Bildung. Dafür nur zwei Beispiele, die das Unvermögen des Verfassers, Heideggers Philosophie als Spiegel des Zeitalters der Extreme zu nutzen, schlaglichtartig beleuchten. So heißt es, der Versailler Vertrag sei als „Diktat zur Verarmung und Versklavung Deutschlands diffamiert“ worden. Was war er denn wohl sonst? Ein Vertrag zur Bereicherung Deutschlands? Von der internationalen Politik in der Zwischenkriegszeit, deren Bedeutung für das Geschichtsdenken Heideggers nicht hoch genug zu veranschlagen ist, scheint Rohkrämer nur eine vage, wenn auch politisch korrekte Vorstellung zu haben.

Das dokumentiert er, wenn er Hei-degger stellvertretend für die rechte Intelligenz rügt, die Menschenrechte geringzuschätzen. Deswegen sei der Philosoph gegen die Propaganda der „für Demokratie und aufklärerische Werte“ streitenden Westmächte für „angeblich deutsche Werte“ und für „anti-universalitische Konzepte“ aufgetreten. Abgesehen davon, daß man mit dem Rechtsphilosophen Alisdair MacIntyre durchaus spotten darf, Menschenrechte hätten den ontologischen Status von Gespenstern und Hexen, wäre Rohkrämer die Lektüre Max Horkheimers oder eines x-beliebigen Marxisten zu empfehlen, um zu erfahren, daß Menschenrechte keine ewigen Wesenheiten sind, sondern stets Ansprüche formulieren, um konkrete Interessen durchzusetzen.

Unter diesen Voraussetzungen kann Rohkrämer natürlich nur wenige „Zeitbezüge“ der Philosophie Heideggers erfassen. Auch diese politische Biographie scheitert somit daran, daß ihr Autor eine goldene Regel seines Metiers mißachtet, der zufolge es nicht Aufgabe des Historikers ist, die Illusionen von gestern an denen von heute zu messen.

Thomas Rohkrämer: Martin Heidegger. Eine politische Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020, gebunden, 297 Seiten, 39,90 Euro