© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Quo vadis Konservatismus?
Egon Flaig bezieht Stellung im Kampf um den Erhalt abendländischer Werte: rationalistisch-aufklärerisch gegen traditional-christlich
David Engels

Der Westen ist in einer Krise; einer Krise, die keineswegs in der angeblichen „Bedrohung von rechts“ gründet, sondern in der Selbstvergessenheit, mit der unsere Gesellschaft sich seit Jahrzehnten von ihren Wurzeln abgeschnitten hat. Mehr denn je stellt sich daher die Frage, „was nottut“, um zu verhindern, daß der Westen bald der doppelten Gefahr des islamischen Fundamentalismus wie auch des zunehmend totalitär auftretenden Humanitarismus erliegt.

Egon Flaig, einer der großen Namen der deutschen Altertumswissenschaft, hat bereits in zahlreichen anderen Publikationen, wie etwa „Die Mehrheitsentscheidung“ (2013), „Für eine säkulare Republik Europa“ (2013) und „Die Niederlage der politischen Vernunft“ (2017), seine Sorge um unsere Zukunft ausgedrückt und gleichzeitig bewiesen, daß er – eine Seltenheit im heutigen akademischen Betrieb – den nötigen Mut besitzt, gegen den Strom zu schwimmen und Antworten zu geben, die abseits des politischen Mainstreams liegen. Sein neues Buch, „Was nottut.  Plädoyer für einen aufgeklärten Konservatismus“, liegt ganz auf der Linie der schon in früheren Publikationen skizzierten Ansätze und tritt ebenso klarsichtig wie entschieden dafür ein, daß nur ein konservativer Ausgangpunkt noch Hoffnung bergen kann, unsere auseinanderdriftende Gesellschaft vor dem völligen Zusammenbruch zu retten.

Doch was ist „Konservatismus“? Gegenwärtig konkurrieren zwei konservative Hauptströmungen, eine rationalistisch-aufklärerische, wie Flaig sie verteidigt, und eine traditional-christliche, wie sie sich etwa in der Pariser Erklärung findet (und, wenn auch mit einigen kulturmorphologischen Besonderheiten, in den vom Verfasser dieser Rezension 2019 publizierten Büchern „Renovatio Europae“ und „Que faire?“). Freilich teilen beide Varianten viele Positionen, wie Flaig es auch in der als Manifest gestalteten Einleitung zu seinem Buch in 32 kurzen Punkten ausführt, doch sind Letztbegründung wie ultimative Stoßrichtung unterschiedlich: Während die eine Strömung von der Aufklärung her kommt, den Menschen und seine Freiheit als ultimatives Maß der Dinge betrachtet und das Christentum mit seinem Universalismus und dem Schuldbegriff letztlich als mitverantwortlich für die gegenwärtige Krise der westlichen Gesellschaft betrachtet, gründet die Anthropologie der anderen vielmehr im Glauben an die Transzendenz und die menschliche Beschränktheit und sieht stäker die Aufklärung als den eigentlichen Keim der rationalistischen und individualistischen Auflösung gesellschaftlicher Harmonie.

Es würde zu weit gehen, hier auszuführen, daß diese Dichotomie letztlich nur eine scheinbare ist; doch soll zumindest ansatzweise erwähnt werden, daß ein kulturkomparatistischer Ansatz beide Positionen historisieren und somit sehr wohl dialektisch zu überwinden vermag und daher auch erklären könnte, wieso die von Flaig im Hauptteil seines Buchs aufgeführten zwölf „Einwürfe“ zur Rechtfertigung eines modernen, aufgeklärten Konservatismus letztlich auch von der traditionalen Strömungen geteilt würden.

So führt Flaig aus, daß ohne Bewußtsein der übergeordneten Bedeutung des Gemeinwohls und der Bereitschaft zum persönlichen Opfer keine Demokratie bestehen kann; ferner, daß die „Kritische Theorie“ eines Habermas der Demokratie durch ihre Verwechslung von Gesellschaft und Staat unendlich geschadet habe; und schließlich, daß eine Demokratie der Grenzen bedarf, wenn sie nicht in eine globalistische Diktatur oder Anarchie ausarten will.

Flaig erklärt sodann, daß Demokratie nur auf Basis einer angemessenen, verantwortungsvollen und klar umrissenen Öffentlichkeit bestehen kann, eine solche Öffentlichkeit aber ohne Meinungsfreiheit zum Scheitern verurteilt ist, was den gegenwärtigen traurigen Zustand erklärt.

Ein weiterer zentraler Punkt des Buchs ist Flaigs Moralbegriff: Die Selbstverpflichtung zur Unwahrheit und Selbstzensur im Sinne einer (falsch verstandenen) höheren moralischen Absicht, wie sie die heutige Medien- und Politiklandschaft charakterisiert, kann nur fatale Folgen zeitigen, ebenso wie die freiwillige Entintellektualisierung der politischen Kultur im Namen des „guten Willens“. Dies ist eng verbunden mit der von Flaig völlig zu Recht konstatierten „Selbstversenkung“ der Humanwissenschaften an den Universitäten, einer der wohl schlimmsten Symptome der politischen Gleichschaltung, Infantilisierung und Nivellierung unserer Gesellschaft.

Hierauf folgt dann eine hochinteressante Debatte des modernen Wertebegriffs, wobei Flaig das als „Wert“ definiert, für das wir Opfer zu bringen bereit sind. Er zieht daher in Anlehnung an Hegels Diktum daß nur derjenige frei sein wird, der die größere Bereitschaft zeigt, sein Leben einzusetzen, während zum Sklaven wird, wer kapituliert bedenkliche Folgerungen bezüglich der Überlebensfähigkeit einer westlichen Welt, welche (im Gegensatz etwa zur muslimischen) die Bereitschaft, echte Opfer zu bringen, längst hinter sich gelassen hat. Die letzten vier Punkte des Buchs sind dann dem Komplex der „kulturellen Dankbarkeit“ gewidmet, also der Besinnung auf die Verantwortung gegenüber den großen Leistungen unserer Vorfahren, ohne die eine Gesellschaft in Selbstvergessenheit, Hybris, Richtungslosigkeit und schließlich Selbstzerstörung ausarten muß.

Insgesamt: ein hochanregendes und anspruchsvolles, klarsichtig und engagiert, wenn auch mit kühlem Kopf geschriebenes Buch, dem man nur eine breiteste Leserschaft wünschen kann – auch und gerade in jener „Mitte“ der Gesellschaft, welche zunehmend ihren inneren Kompaß zu verlieren scheint.






Prof. Dr. David Engels, Jahrgang 1979, ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Instytut Zachodni (West-Institut) in Posen.

Egon Flaig: Was nottut. Plädoyer für einen aufgeklärten Konservatismus. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2020, broschiert, 176 Seiten, 19,90 Euro