© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Landleben lebt
Der Geograph Werner Bätzing hat eine großartige Analyse über die kulturelle Bedeutung des Lebens abseits der urbanen Zentren vorgelegt
Heino Bosselmann

Am Anfang war nun mal nicht die Stadt, sondern das Land. – Die verdienstvolle Analyse des Landlebens von Werner Bätzing erschließt nicht nur ländliche Alltagsgeschichte, sondern beschreibt so umfassend wie stringent den Wandel von der Agrar- zur Industrie- bzw. postmodernen Dienstleistungsgesellschaft. Dabei gelingt es dem Geographen und renommierten Alpenforscher in beeindruckender Weise, die komplexen Verflechtungen ökonomischer, sozialer, kultureller und demographischer Beziehungen in ihrer dramatischen Veränderung ebenso darzustellen wie deren ökologische und landschaftsästhetische Folgen.

Seine Kernfrage: „Kann das Landleben unter den heutigen Bedingungen wirtschaftlich tragfähig, kulturell bereichernd, sozial vielfältig sein, und kann es eine qualitativ gute Versorgung und eine vielfältige und gesunde Umwelt bieten?“ Am Ende des kompakten Bandes beantwortet der Autor diese Frage eingeschränkt positiv, indem er nach umfassender Bestandsaufnahme das Klischee revidiert, allein die Stadt hätte sich weiterentwickelt, während das Land stehengblieben wäre. Man habe nämlich vergessen, „daß die Erfindung der Landwirtschaft sowie die Schaffung und permanente Stabilisierung der Kulturlandschaften eine sehr große Kulturleistung bedeutet, daß es ohne dezentrale Dörfer gar keine Stadt gäbe und daß das Land mit seiner Lebensmittelproduktion die materielle Grundlage für das gesamte städtische Leben darstellt“. 

Fixiert auf den vermeintlichen Fortschritt kraft Industrie ließe man außer acht, daß in den Preis ihrer Produkte nur direkte Kosten eingingen, während Reproduktionskosten der menschlich veränderten Umwelt nicht berücksichtigt würden. Landwirtschaft und Landleben folgten, solange sie nicht selbst aus Marktgründen industriell wirtschaften mußten, ganz naturgemäß dem, was heute als Nachhaltigkeit bezeichnet wird.

Wenn der Autor zeigt, was unsere urbane Kultur einerseits ihrer agrarischen Grundlage verdankt und wie andererseits die Entwicklung der Städte und Metropolen letztlich in beinahe jeder Hinsicht zu Lasten des Landes ging, verfährt er wissenschaftlich höchst genau, bietet Karten, Fotos und Zahlen auf, setzt interessante Akzente, prognostiziert künftige Möglichkeiten und grundiert seine Urteile nachvollziehbar konservativ, ohne jedoch zu romantisieren: „Das Land steht dabei für die Selbstversorgung ohne Arbeitsteilungen und Spezialisierungen, für eine räumliche Einheit von Leben und Wirtschaften in überschaubaren Größenordnungen, für ein generationenübergreifendes Wirtschaften, für traditionellen Hausverstand, für ein Leben in Selbstgenügsamkeit ohne Reichtum, für egalitäre Strukturen und für Naturnähe, also für das Wissen um die Notwendigkeit der ökologischen Reproduktion der Kulturlandschaft. Das negative Bild des Landes, das mit der Entstehung der Städte und der Hochkulturen in die Welt kommt, ist also ein realitätsfernes Bild, das den Städten eine falsche Grundlage ihrer Existenz suggeriert.“

Während es bis zum Ende der Siebziger beinahe so aussah, als würden ländlich traditionelle Lebensformen völlig verschwinden, setzte seit den Achtzigern eine Trendwende ein, mit der ein Lebensstil entstand, der etwa in der beliebten Zeitschrift Landlust seinen Ausdruck findet. Neuerdings gilt das Ländliche nicht mehr als Synonym für Enge, Rückständigkeit und Hinterwäldlerstumpfsinn. Im Gegenteil: Sich durchaus modern verstehende Menschen versuchen an Bewährtem anzuknüpfen, um so neuerlich eine Identität im Natürlichen und Regionalen wiederzufinden.

Allerdings geht es Werner Bätzing nicht um Lifestyle-Fragen. Das über Jahrhunderte die gesamte Gesellschaft bestimmende Landleben in seiner Vielgestalt wurde mit der Industrialisierung und der Ablösung der Ständegesellschaft innerhalb historisch kurzer Frist zunächst entwertet. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgenden Gebietsreformen, die suburbane Etablierung von Zwischenstädten und überhaupt der wirtschaftliche Strukturwandel ließen das Dorf seinen landwirtschaftlichen Gründungsimpuls verlieren und seine Traditionen vergessen, obwohl selbst noch die ländliche Lebenswelt in den Fünfzigern, so Bätzing, dem Mittelalter näher war als unserer Gegenwart. Aber: „Die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe hat seit 1949 um 86 Prozent abgenommen, so daß der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft im Jahr 2017 nur noch bei 1,4 Prozent aller Erwerbstätigen und der Anteil der Wertschöpfung bei 0,9 Prozent der gesamten Wertschöpfung in Deutschland liegt.“ Längst gibt es Dörfer ohne einen einzigen Landwirt.

Dennoch erkennt der Autor im Landleben Potential. Mittlerweile zwar deutlich geschwächt, bietet der dezentrale ländliche Raum „immer noch knapp zwei Fünftel aller Arbeitsplätze in Deutschland“; er verschwindet als Wirtschaftsraum also keinesfalls. Zudem erkennen immer mehr Menschen die Fragwürdigkeit der „maximalen Wahlmöglichkeiten der Konsumgesellschaft“. Nicht zuletzt hängt das Überleben ländlicher Kultur davon ab, inwiefern der Mensch sein Maß sucht und neu findet. 

Bereits in seiner geschichtlichen Herleitung verweist Werner Bätzing darauf, daß die industrielle Produktion Ressourcen eher „vernutzt“, „während das traditionelle Wirtschaften langfristig ausgerichtet ist und sich für die Reproduktion der menschlich veränderten Natur verantwortlich fühlt“. Bauerngesellschaften realisierten schon früh, wonach der Mensch heutzutage strebt, sie zeigten, „daß es möglich ist, die Natur so in Kulturlandschaften umzuwandeln, daß dabei weder die ökologische Stabilität noch die Vielfalt zerstört wird“.

Es heißt weder Philemon und Baucis nachzuweinen noch von Blut und Boden zu raunen, wenn Bätzing nachzuweisen versteht, daß dem Landleben naturgemäß von jeher ethisch vieles bewußt war, was neuerdings zur Rettung von Umwelt und Planet unabdingbar erscheint. So gab es gerade durch die bäuerliche Kulturlandschaft um 1850 eine so hohe biologische Artenvielfalt, wie es sie ohne die bäuerlichen Tätigkeiten gar nicht gegeben hätte. Landwirtschaft und Umweltschutz schließen sich nicht grundsätzlich aus, im Gegenteil. Der durch die Industrialisierung und deren „Vernutzung“ ohne Zweifel gewonnene Komfort bedingte eine ökologische und nicht minder kulturelle Verarmung, die wiederum ein gedankliches Revisionsbedürfnis auslöste, das zwar nicht einfach ein „Zurück aufs Land!“ fordern möchte, aber Anschlußmöglichkeiten auffindet, die von der jahrtausendealten Kultur des Landlebens immer noch tradiert werden. Dabei geht es nicht zuerst um schöne Landschaften, sondern um die Suche nach neuen Wegen zum Überleben der gesamten Gesellschaft.

Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform, C. H. Beck, München 2020, gebunden, 302 Seiten, 26 Euro