© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Im Zweifel für die Freiheit
Verfassungsschutz II: Kritik der Verdachtsberichterstattung
Jörg Kürschner

Gesellschaften verändern sich und mit ihnen staatliches Handeln. Dem Wandel suchen die Parlamente mit (Reform)-Gesetzen Rechnung zu tragen, die von den Gerichten angewendet und ausgelegt werden. Diesen begrenzten Spielraum hat die Verwaltung nicht, oder sie beansprucht ihn erst gar nicht, wie der Rechtswissenschaftler Dietrich Murswiek am Beispiel des Bundesamts für Verfassungschutz (BfV) nachweist. Das Amt rügt seit einigen Jahren einen „einseitig verengenden Volksbegriff, dem eine ethnokulturelle Konzeption zugrunde liegt“. Darin könnte nach Ansicht der Behörde ein Verstoß gegen die Menschenwürde liegen, da ethnisch Nichtdeutsche ausgegrenzt und diskriminiert werden könnten. 

Im Umkehrschluß bedeute diese Auffassung, daß „es kein legitimes Ziel der Politik (sei),die ethnisch-kulturelle Identität der Nation ... zu bewahren“, folgert der Autor, der die AfD in ihrer Auseinandersetzung mit dem BfV juristisch berät (JF 4/20). BfV-Präsident Thomas Haldenwang hatte am vergangenen Donnerstag den „Flügel“ der AfD zur „gesichert rechtsextremistischen Bestrebung“ erklärt und diese folgenschwere Einschätzung unter anderem mit dessen „völkischen Positionen“ begründet (siehe nebenstehender Beitrag).  

Rückblick. Die CDU hatte – gestützt auf höchstrichterliche Urteile – die Wahrung der nationalen Identität noch 1999 vehement im hessischen Landtagswahlkampf verteidigt („Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“), die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatte 2010 Multikulti für „absolut gescheitert“ erklärt. Was hat sich seitdem verändert? Das Meinungsspektrum hat sich zu einem Rinnsal verengt, denn Positionen der Grünen, vieler Medien und NGOs dominieren inzwischen den von Politischer Korrektheit geprägten hypermoralischen Diskurs. Wenn die Verfassungsschützer nunmehr Kritik am Multikulturalismus in die Schmuddelecke des Extremismus stellen, machten sie sich zum hoheitlichen Vollstrecker dieser Partei, kritisiert der Verfassungsrechtler. Den Beurteilungsspielraum im Sinne der Meinungsvielfalt auszuüben statt eine Meinung als angeblich extremistisch zu brandmarken, kommt der Kölner Behörde offensichtlich nicht in den Sinn.

Diese veröffentlicht jährlich den Verfassungsschutzbericht, der die Öffentlichkeit über extremistische Parteien, Organisationen und Publikationen aufklären soll. Mit Ausnahme der PDS/Linke habe die Erwähnung politischer Parteien im Verfassungsschutzbericht „stets zuverlässig dafür gesorgt, daß diese in Bedeutungslosigkeit versanken“, konstatiert der Autor am Beispiel der Republikaner (Rep). Derart markierte Parteien hätten „regelmäßig keine Chance ..., dauerhafte Wahlerfolge zu erzielen und sich als einflußreiche politische Kräfte zu etablieren“. Interessant ist Murswieks Erklärung dafür, daß der PDS/Linke die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht offenbar nicht oder nicht meßbar geschadet hat. Deren Verwurzelung in der ehemaligen DDR mit Personal, Ressourcen und Wählerstamm der SED habe der Nachfolgepartei eine Basis geschaffen, „die sich von Bewertungen in Verfassungsschutzberichten nicht beeinflussen ließ“. Ob diese Form politischer Immunität gegenüber dem hoheitlichen Diktum auch der AfD zugute kommen wird, bleibt abzuwarten. Als die Behörden die Beobachtung der Republikaner wegen fehlenden Extremismusverdachts einstellen mußte, war das politische Schicksal der rechtskonservativen Partei längst besiegelt.

Murswiek nennt ein weiteres Beispiel für die Abwehrhaltung des Amtes gegenüber vermeintlich extremistischen Meinungen. Der 8. Mai 1945 wurde in Westdeutschland bis zur Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 als „Tag der Kapitulation“ bezeichnet. In der DDR war vom „Tag der Befreiung“ die Rede. Unlängst kritisierte Haldenwang, der 8. Mai werde halb im Scherz „Tag der Kapitulation“ genannt statt „Tag der Befreiung“. Dadurch werde „die Grenze des Sagbaren verschoben“, empörte sich der oberste Verfassungsschützer, dem Murswiek eine undemokratische Ausgrenzung vorwirft.

„Pressefreiheit läßt Kritik an Verfassungswerten zu“ 

Ausführlich widmet sich der emeritierte Hochschullehrer der aus seiner Sicht grundsätzlich grundgesetzwidrigen Verdachtsberichterstattung, der die JUNGE FREIHEIT knapp zehn Jahre ausgesetzt war. Im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht wurde die JF wegen angeblicher „tatsächlicher Anhaltspunkte für den Verdacht auf rechtsextremistische Bestrebungen“ genannt. Es sei nur der Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung festgestellt worden, gesicherte Erkenntnisse dafür – die die Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht rechtfertigen würden – lägen aber nicht vor, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2005, das dem Amt und dem Innenministerium strengere Kriterien für Veröffentlichungen vorgab. 

„Die bloße Kritik an Verfassungswerten reicht nicht aus“, die Meinungs- und Pressefreiheit lasse auch eine kritische Auseinandersetzung mit Verfassungsgrundsätzen zu. Seitdem wird die JF in den Verfassungsschutzberichten nicht mehr erwähnt. Im Zweifel für die Freiheit. 

Dietrich Murswiek: Verfassungsschutz und Demokratie. Schriften z. Öff. Recht Bd. 1416, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2020, broschiert, 187 Seiten, 39,90 Euro