© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Islamisten und Kurden auf der Verliererseite
Syrien: Moskau und Ankara haben kein Interesse an einer offenen militärischen Auseinandersetzung / Neuordnung nach Waffenstillstand
Marc Zoellner

Samstag abend klickten die Handschellen: Mit der Verhaftung von Abdullah Qardash vermeldete die Terrorgruppe Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS) eine wohl spektakuläre Gefangennahme – und ein wohl noch viel größeres beginnendes Politikum. Immerhin gilt Qardash, der im Irak unter Saddam Hussein als Parteifunktionär diente, seit dem Tod Abu Bakr al-Baghdadis als neues Oberhaupt des Islamischen Staats (IS) – und somit als eine der Schlüsselfiguren im syrischen Bürgerkrieg. Die HTS wiederum wird dominiert von den Dschihadisten der al-Nusra-Front, und beide, al-Nusra wie der IS, sind als Ableger des weltweiten al-Qaida-Netzwerkes entstanden. Sie kämpften beide als Waffenbrüder gegen Syriens Machthaber Baschar al-Assad sowie gegen moderate Rebellengruppen.

Fast scheint, als lägen bei der HTS die Nerven blank. Was wohl begründet ist, denn im jüngst ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen zwischen Rußland und der Türkei sind die Islamisten tatsächlich schlecht gelitten. Mehrere Wochen lang hatten sich die Syrisch-Arabische Armee (SAA) al-Assads sowie von der aufständischen Freien Syrischen Armee (FSA) unterstützte türkische Truppen einen blutigen Schlagabtausch um die Kontrolle der Provinz Idlib geliefert, in dessen Verlauf auf türkischer Seite gut 60, auf syrischer Seite mehrere hundert Soldaten getötet wurden. 

Um eine Eskalation hin zum offenen Krieg zu vermeiden und eine Kompromißlösung zu erarbeiten, kamen vergangene Woche Vertreter der russischen Regierung – als militärische Verbündete al-Assads – sowie ihre türkischen Amtskollegen in Ankara zusammen.

In den nachfolgenden Verhandlungen einigten sich Moskau und Ankara sowohl über Idlib als auch über die türkische Schutzzone und die Kurdengebiete: Gemeinsam, so die Abschlußerklärung, wollten beide Nationen ihre Anstrengungen auf humanitärer und Flüchtlingsebene koordiniert verstärken, und ebenso im Kampf gegen die von der Türkei als Terrororganisation eingestuften kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), den syrischen Arm der auch in Europa verbotenen kommunistischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). 

Dschihadisten torpedieren Patrouillengänge 

Moskau garantiert weiterhin die Unversehrtheit der türkischen Truppen in Idlib, die wiederum gemeinsam mit russischen Soldaten vom 15. März an auf Patrouille entlang der strategisch wichtigen Schnellstraße M4 gehen sollen.

Die M4 beginnt in der am Mittelmeer gelegenen syrischen Hafenstadt Latakia, mündet 120 Kilometer weiter östlich in die M5, die Aleppo mit Homs, Hama und Damaskus verbindet – und verläuft somit quer durch die Provinz Idlib. Effektiv sicherte sich Moskau mit dem Abkommen von vergangener Woche eine Ausweitung seines Einflußbereiches bis tief in die von der HTS gehaltene Rebellenhochburg hinein. Rechts und links der Straße wollen beide Länder einen sechs Kilometer breiten Sicherheitsstreifen etablieren, um Angriffen auf ihre Konvois vorzubeugen.

Für die HTS stellen russische Truppen auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet nicht nur einen klaren Affront dar, sondern ebenso eine lebensgefährliche Bedrohung ihrer Milizionäre. Noch am Wochenende kündigte ein Sprecher der Terrorgruppe an, das Abkommen nicht anerkennen zu wollen. Hunderte Einwohner der Provinz Idlib blockierten am Sonntag zentrale Stellen der M4 mit Sitzstreiks und Autobarrikaden. HTS-Sympathisanten machten die Schnellstraße mit ausgelegten Krähenfüßen streckenweise unpassierbar und zwangen die russisch-türkischen Patrouillen kurzfristig zur Umkehr. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA berichtete zudem von brennenden Autoreifen und zivilen menschlichen Schutzschilden, hinter denen sich bewaffnete Dschihadisten verschanzt hätten. 

Die Gefangennahme des IS-Führers Qardash stellt somit ein Entgegenkommen der HTS, die sich nun zur Gesprächsaufnahme gezwungen sieht, in Richtung der Konferenzteilnehmer dar.

Für Moskau und Ankara ist das Abkommen hingegen eine Win-Win-Situation: Die Türkei wahrt ihr Gesicht und behält ihre Einflußsphären im Syrienkonflikt. Mit der Kooperation gegen die YPG kommt Rußland der Türkei in deren Sicherheitsstreben sogar entgegen und verhindert gleichzeitig eine außenpolitische Interessenverlagerung Erdo?ans hin zur USA. Von einem offenen Krieg hätte sowieso keine der Parteien profitiert. Der jüngste Waffenstillstand ist ein Abkommen, das zum Wohle sämtlicher Regionalmächte auf dem Rücken der Islamisten geschmiedet wurde – und ebenso erneut auf dem der kurdischen Bevölkerungsminderheit, die nach den USA nun auch Rußland als Schutzmacht verloren hat.