© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Viele verschwanden spurlos
Im Frühjahr 1945 wurden Hunderttausende Zivilisten in Ostdeutschland von den Sowjets verschleppt
Gernot Facius

Christa E. war zarte 15 Jahre alt. Am 15. März 1945 wurde sie aus dem ostpreußischen Tolnicken nach Tscheljapinsk in Sibirien deportiert. Eingesperrt mit anderen Frauen auf engstem Raum in einem Eisenbahnwaggon. Als Essensration täglich zwei Scheiben steinhartes Brot, hin und wieder ein Stück Käse, aber so gut wie nichts zu trinken. Viele ihrer Leidensgenossen stürzten sich auf verunreinigtes Wasser und starben an der Ruhr.

Am 9. April hielt der Elendszug auf freier Strecke. „Wir wurden im Lager hinter hohem Stacheldraht in Baracken eingewiesen, jeweils 200 Frauen in eine“, erinnerte sich Christa E. „Vom 20. April an mußten die ersten Brigaden in der Ziegelei Schwerstarbeit unter ganz primitiven Verhältnissen verrichten. Im ersten Halbjahr sind täglich 20 bis 30 Frauen gestorben. Es herrschte Typhus.“

Bis zu einer halben Million verschleppte Zivilisten 

Die Ostpreußin war ein Opfer der „Mobilisierung“ geworden – ein verharmlosender Begriff für die von den Sowjets geplante und systematisch betriebene Aktion: Ostdeutsche Zivilpersonen wurden von zwei großen Deportationswellen „weggespült“. Aus heute zugänglichen Statistiken des Geheimdienstes NKWD vom März 1946 geht hervor, daß ein Drittel dieser Unglücklichen Frauen waren. Ihre Spuren sind allmählich verweht. In der sowjetischen Statistik ist das gesamte Ausmaß der Verschleppungen durch die verantwortlichen Heeresgruppen der Roten Armee nicht erfaßt. Wie viele Ostdeutsche bereits auf den Märschen zu den Sammellagern oder auf den Transporten umkamen, ist deshalb nicht bekannt.

Das Schicksal der – in der Sprache der Sowjets – „Mobilisierten“ und „Internierten“ wurde von der deutschen Zeitgeschichtsforschung lange Zeit kaum beachtet. Moskau operierte mit der Zahl von 270.000 Personen. Diese Darstellung steht allerdings im Kontrast zu den Angaben in der „Dokumentation der Vertreibung“, die von der Bundesregierung in den 1950er Jahren in Auftrag gegeben worden war: 218.000 deportierte Zivilpersonen aus dem Reichsgebiet, 130.000 aus Südosteuropa, insgesamt also etwa 350.000 Deportierte. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und die kirchlichen Suchdienste gingen allerdings von weit mehr, nämlich 400.000 bis 500.000 in die damalige UdSSR verschleppten Deutschen aus. Nach anderen Berechnungen waren es sogar bis zu einer Million Menschen.

Dort, wo das Gros der Bevölkerung schon geflüchtet war, sammelten die sowjetischen Trupps selbst zwölfjährige Kinder ein. Drei Viertel der „Mobilisierten“ wurden zur Fronarbeit in den Kohlegruben des Donbass-Gebietes und der dortigen Metallbaubetriebe eingesetzt. Rund elf Prozent kamen ins Uralgebiet, kleinere Gruppen in den Kaukasus, nach Weißrußland, aber auch in den Norden, ans Eismeer. Im Donbass überwog zwar der Anteil der Männer, doch waren hier auch mehr als 42.000 Frauen eigesetzt.

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der „Mobilisierten“ und „Internierten“ waren, wie aus mehreren Untersuchungen hervorgeht, noch schlechter als die der Kriegsgefangenen: permanenter Hunger, katastrophale hygienische Zustände, die zu Seuchen führten. Per Verordnung waren diese Verschleppten den Industriekomplexen der Volkskommissariate zugeteilt, diese sahen in ihnen nur die maximal ausbeutbare Arbeitskraft.

Die etwa 138.000 registrierten deutschen Deportierten, die man in der „zweiten Welle“ bis zum 15. April 1945 festgenommen und anschließend in die Sowjetunion gebracht hatte, schufteten in 392 Arbeitsbataillonen beim Wiederaufbau von Bergwerken, Fabriken oder der Errichtung neuer Industrieobjekte. In der kurzen Zeit bis zum Sommer 1945 starben etwa 47.000 „Internierte“, ein Drittel. Das Regime an den Standorten der Arbeitsbataillone entsprach dem der anderen Lager, die Lebensmittelversorgung der „mobilisierten Internierten“ war hingegen weitaus schlechter – so das Urteil von Experten, die sich mit der Rehabilitierung der völkerrechtswidrig Verschleppten befaßten.

Willkürlich festgenommen und in Sammellager gesperrt

Die Folgen konnte selbst die sowjetische Statistik nicht leugnen: Sie verzeichnete bei den 272.000 registrierten „mobilisierten Internierten“ bis 1949 insgesamt 66.500 Sterbefälle. Aber die Verhältnisse in den Lagern änderten sich bis 1948 kaum. Immer größer wurden die Lücken bei „Internierten“ und Kriegsgefangenen. Deshalb erteilte das Innenministerium in Moskau der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) Ende 1946 den Auftrag, 27.500 arbeitsfähige Männer aus den Speziallagern und Gefängnissen der damaligen SBZ auszusuchen und in die Sowjetunion zu bringen.

Doch auch hier, in Mitteldeutschland, war die Lage nicht besser. Es konnten, wie das Autorenduo Günter Polster und Herbert Hecht über das Leben im Gulag recherchierte, gerade noch 4.500 arbeitsfähige Gefangene gefunden werden. Sie wurden im Februar 1947 ins westsibirische Gebiet Kemerowo gebracht. Am Ende, so 2005 die Historikerin und Politologin Ute Schmidt von der FU Berlin, bleibe eine bittere Bilanz zu ziehen: „War schon die völkerrechtswidrige Verschleppung von Hunderttausenden zusammengewürfelter deutscher Zivilisten – unter ihnen viele Frauen, Kinder und alte Menschen, ungeachtet ihrer persönlichen Schuld – eine menschliche Tragödie, so erfüllte diese Deportationsaktion noch nicht einmal ansatzweise den vorgeblichen Zweck, nämlich zur Wiedergutmachung der Zerstörungen beizutragen, die während des von Nazi-Deutschland ausgehenden Krieges in der Sowjetunion angerichtet worden waren.“ Die Kräfte der Menschen, die „stellvertretend“ hätten büßen müssen, seien „sinnlos verbraucht“ worden. Schmidt: „Es ging nicht um Bestrafung von Schuldigen, es ging in erster Linie um die Rekrutierung von billigen, disponiblen und rechtlosen Arbeitskräften. Sie wurden als ‘lebende Reparationen’ abkommandiert.“

Die Verhaftungen, ist im „Lexikon der Vertreibungen“ (Böhlau Verlag) nachzulesen, glichen oftmals Razzien. Im früheren deutschen Teil von Oberschlesien war es zur Festnahme kompletter Trupps von Bergarbeitern gekommen: „Auf diese Weise sicherte sich die Sowjetunion die wertvollsten Arbeitskräfte. In den übrigen Regionen war der Anteil der Frauen unter den Deportierten höher, weil es dort einfach nicht mehr genug Männer gab.“ Viele Personen wurden schlichtweg auf der Straße festgenommen und in Sammellager gesteckt, zum Beispiel in Graudenz, Posen, Zichenau, Insterburg, Gleiwitz, Beuthen und Schwiebus. 

Dann begann die mehrwöchige Deportation Richtung Osten. „Die Bedingungen, unter denen die Zivilgefangenen festgehalten wurden, unterschieden sich nicht von der üblichen harten Situation in sowjetischen Lagern, wie sie direkt nach dem Krieg herrschten“, schrieb Malgorzata Ruchniewicz (Breslau) in dem Lexikon. Die letzten dieser Arbeitssklaven kamen 1956 frei – nach dem Moskau-Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Und in den 1990er Jahren bestätigte auch die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft die gewaltsame Deportation von Teilen der deutschen Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit: Sie glichen in ihrer Form den „politischen Repressionen gegen die Völker der Sowjetunion. Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit gegenüber diesem Personenkreis ist zweifellos erforderlich.“