© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Irgendwann wurde die Grenze wieder wichtig
Vor 25 Jahren trat das Schengener Abkommen in Kraft / EU-Grenzkontrollen sollten der Vergangenheit angehören
Michael Dienstbier

Europa ist in den vergangenen Jahren zu einem Kampfbegriff verkommen. Vorbei die Zeiten, als Europa für die kulturelle Vielfalt unabhängiger Völker und Nationen stand, die, zusammengehalten durch den gemeinsamen Ursprung im Christentum, Sehnsuchtsort und zivilisatorisches Zentrum unseres Planeten bildeten. Die heute dominierende Elite spricht von Europa und meint die Europäische Union. Lobt sie in Sonntagsreden die Vielfalt des Kontinentes, so verfolgt sie doch das Ziel einer allumfassenden Vereinheitlichung, das sie mit Euphemismen wie „Harmonisierung“ versucht zu verschleiern. Strebten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle noch das Ideal eines Europas der Vaterländer an, gilt dieser Begriff heute als verpönt und wird vom EU-affinen polit-medialen Komplex als rechtspopulistisches Narrativ verunglimpft, das den Kontinent in die dreißiger Jahre zurückwerfen wolle. 

Verbindlich festgelegt wurde das Ziel einer „ever closer union“ – einer immer engeren Union – erstmals im Vertrag von Maastricht 1992. Damit war der Ton gesetzt: Der Transfer nationaler Souveränitätsrechte an supranationale, also europäische Institutionen sollte die einzig als legitim erachtete Zukunft EU-Europas werden. Der Name eines luxemburgischen 5000-Seelen-Dorfes markiert bis heute einen Meilenstein auf diesem Weg. Am 26. März 1995 trat das Schengener Abkommen in Kraft, mit dem innereuropäische Grenzkontrollen für immer der Vergangenheit angehören sollten.

2015 wurde „Schengen“ praktisch ausgesetzt

Das tatsächliche Inkrafttreten war Endpunkt eines zehnjährigen Prozesses, der ebenfalls in Schengen begann. Am 15. Juni 1985 einigten sich Deutschland, Frankreich und die Beneluxstaaten auf den Verzicht gegenseitiger Grenz- und Personenkontrollen. Der lange Zeitraum zwischen Absichtserklärung und Implementierung verdeutlicht bereits, daß man die technischen und politischen Schwierigkeiten, die mit der Abschaffung kontrollierter Staatsgrenzen einhergehen, massiv unterschätzt hat. 

Erst das Schengener Durchführungsabkommen vom 19. Juni 1990 – auch Schengen II genannt – regelte die Zusammenarbeit der Schengen-Staaten in bezug auf Polizei, Justiz und Asyl. Weitere fünf Jahre wurden benötigt, um eine gemeinsame Datenbank einzurichten. Zu diesem Zeitpunkt waren auch Italien, Griechenland und Portugal dem Schengen-Raum beigetreten. Heute zählt dieser 26 Mitglieder, darunter Nicht-EU-Staaten wie Norwegen, Island und die Schweiz. Großbritannien und Irland waren nie Mitglied von Schengen, und EU-Staaten wie Bulgarien, Rumänien oder Kroatien erfüllen noch nicht die Kriterien zu einem Beitritt.

Schengen war von Anfang an vor allem ein ökonomisches Projekt. Bedenken der Sicherheitsbehörden wurden als nachrangig betrachtet. Die Einbruchskriminalität gerade in grenznahen Bereichen hat seit 1995 massiv zugenommen und wird von der Politik ganz offensichtlich als Kollateralschaden eines grenzenlosen Europas bewertet. 

Denn es ist gerade die Wirtschaft, die von einem freien Fluß von Waren, Menschen und Finanzen profitiert. Grenzkontrollen kosten Zeit, Zeit ist Geld und ungehinderte Lieferketten somit das perfekte Schmiermittel, um den ökonomischen Verwertungsprozeß am Laufen zu halten. Für die EU hatten und haben die Interessen der Wirtschaft immer Vorrang vor den Sicherheitsinteressen der europäischen Völker. Wenn das Auswärtige Amt auf seiner Homepage schreibt, daß „mit dem Wegfall der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Union (…) nicht nur ein Mehr an Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch an Sicherheit“ einhergehe, dürften das nicht wenige als den blanken Hohn empfinden. Der versprochene Schutz der Außengrenzen in Italien und Griechenland wird von einer gut vernetzten Migrationslobby diskreditiert und mit juristischen Mitteln hintertrieben. Einem Viktor Orbán, der mit einem robusten Grenzregime die EU-Schengen-Außengrenze zu Serbien erfolgreich geschlossen hält, wird dabei sogar Europa- und Menschenfeindlichkeit vorgeworfen.

„Wenn Schengen stirbt, wird Europa sterben“, ließ der damalige EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos im Oktober 2017 verlauten. Dieser Satz ist genauso falsch wie Merkels berüchtigtes „Scheitert der Euro, scheitert Europa“-Diktum. Gefährdet wird höchstens das technokratische Projekt EU, welches auf den freiwilligen Verzicht nationaler Souveränitätsrechte ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen ist. Spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und den damit einhergehenden Terroranschlägen in Paris im November 2015 existiert Schengen eigentlich nur noch auf dem Papier. Deutschland, Frankreich, Österreich und die skandinavischen Länder kontrollieren seitdem wieder ihre Grenzen. Dazu sind sie nach Artikel 23 und 24 des Schengener Abkommens „im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ berechtigt, entweder für 30 Tage oder für so lange, wie die Bedrohung anhält. Wird jedoch diese als „Schengen-Notstand“ bezeichnete Ausnahmeregelung durch ständige Inanspruchnahme zum Normalfall, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Abkommens an sich. Es wird Zeit, Grenzschutz wieder als zentralen Bestandteil eines friedlichen Europas zu begreifen.