© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Der Flaneur
Es geht mich nichts an
Paul Leonhard

Draußen ist es dunkel. Der ICE rast mit Temo 200 durch die Nacht. Quer durch Deutschland. Ich bekomme davon nicht viel mit. Mich hat die Muse geküßt und ich übertrage ihre Einflüsterungen schnell auf mein Notebook. Bis plötzlich die Batterieanzeige aufflackert: Der Akku halte nur noch maximal 30 Minuten. 

Kein Problem. Ich habe das Netzeil dabei. Ich taste nach der Steckdose unter dem Sitz. O Schreck, da ist keine. Ich beuge mich herab. Nichts. Auch nicht an den Armlehnen. 

„Stand by“ verkündet das Notebook. Der Bildschirm erlischt. Eine Blondgefärbte in Uniform schiebt sich durch den Waggon. Ob es hier keine Steckdosen gebe? Sie verweist auf die Viererplätze mit den Tischen. Nur dort. Ich stehe auf und schaue mich um. Alle sind besetzt mit eifrig arbeitenden Reisenden. 

Anna-Lena bekommt einen Termin, Alexandra und Laura auch.

Ich schaue aus dem Fenster. Morgendämmerung. Dann nehme ich aus dem Augenwinkel etwas war, was mich ablenkt. Die Frau rechts vorn, jenseits des Gangs, hat ihren Laptop auf Großschrift gestellt. Vielleicht hat sie ihre Brille vergessen oder findet sich ohne schöner. Anna-Lena hat sich beworben, lese ich, und – oh freudige Nachricht – Sophie lädt sie namens ihrer Firma zu einem Treffen ein. 

Ich schaue sofort weg und aus dem Fenster. Doch Sophie blättert mittels Tastatur weiter, und der Bilderwechsel erweckt erneut meine Aufmerksamkeit. Aha, sie sucht im Kalender nach einem Termin für Anna-Lena. Ich schaue wieder weg, wieder hin und wieder weg. Der Mann rechts von mir beißt beherzt in sein Wurstbrot. Bei Sophie blinkert es. Der Termin ist gefunden. Auch Alexandra bekommt einen, und Laura. 

Warum verwendet Sophie keinen Textbaustein, sinniere ich. Jetzt scrollt sie sich durch die Angebote eines Onlinehändlers: Hosen, Blusen, langschaftige Stiefel. Sucht sie Arbeitskleidung für das Treffen oder ist das jetzt privat? Auf jeden Fall geht es mich nichts an.