© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Wer ist souverän?
Die Corona-Krise zeigt: Über den Ausnahmezustand entscheiden die Nationalstaaten
Michael Paulwitz

In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Wahrheit. Im Ernstfall zählt nicht Reden, sondern Handeln. Handlungsfähigkeit setzt die erforderlichen Machtmittel voraus, die Legitimation zur Gewaltausübung und die Akzeptanz durch die Betroffenen. Die Corona-Krise hat es glasklar an den Tag gebracht, welche Instanz diese Voraussetzungen erfüllt: Ohne den Nationalstaat geht es nicht.

Für EU-Bürokraten muß das eine nicht minder bittere Erkenntnis sein als für all die vor allem in Deutschland anzutreffenden Schwarmgeister, die da glauben, Nation und Nationalstaat seien überholte Konzepte „aus dem 19. Jahrhundert“, die schleunigst zu überwinden und in transnationalen Systemen einzuschmelzen seien.

Im Moment der Krise aber richten sich alle Blicke auf den eigenen Nationalstaat. Von ihm wird erwartet, die notwendigen Maßnahmen nach außen und nach innen zu ergreifen, um Leben und Sicherheit seiner Bürger zu schützen. Auch bei der Linderung der Folgeschäden für den einzelnen Bürger und Unternehmer und für die ganze Volkswirtschaft ist zuerst der Nationalstaat gefragt. 

Grenzschließungen, die eben noch wegen sakrosankter EU-Dogmen für „unmöglich“ erklärt worden waren, können da auf einmal ohne viel Federlesens umgesetzt werden. Europas Nationalstaaten zeigen, daß sie selbst zu drastischen Eingriffen in das Alltagsleben der Bürger und das Wirtschaftsleben in der Lage sind, bis zum weitgehenden Herunterfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft. Bürger akzeptieren diese Maßnahmen zunächst, weil sie von derjenigen Instanz kommen, die von ihnen auch demokratisch legitimiert ist und kontrolliert werden kann und der sie das Gewaltmonopol zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung übertragen haben. Gewiß: Auch Einschüchterung durch Panik spielt dabei eine Rolle. 

Und wenn in Deutschland über weitreichende Freiheitseinbußen weniger kontrovers als anderswo diskutiert wird, hängt dies auch mit der deutschen Obrigkeitsgläubigkeit zusammen, die vom Staat die Lösung aller Probleme erwartet und auch länger als vernünftig darauf vertraut, daß „die da oben“ schon wissen, was sie tun. Und doch würden dieselben Maßnahmen fraglos weit weniger willig hingenommen, wären sie von einer anonymen supranationalen Macht wie der Europäischen Union verhängt worden.

Diese Frage stellte sich freilich gar nicht. Die EU stand hilflos am Spielfeldrand, als die Mitgliedstaaten nacheinander immer weitergehende Maßnahmen ergriffen: Einreiseverbote, Grenzschließungen, Beschränkungen von Handel und Reiseverkehr; Griechenland wiederum setzte unter ohnmächtigen Protesten von Uno und EU zeitweise sogar das Asylrecht aus, um sich im Grenzkrieg mit der Türkei vor Überforderung durch Erdo?ans Migranteninvasion zu schützen.

Das ist nur folgerichtig. Der europäische Staatenbund entstand als Vereinigung von Nationalstaaten, die sich als Herren der Verträge die letzte Entscheidung über staatliches Handeln vorbehalten haben, und sie ist es in ihrer Grundarchitektur bis heute. Die Potemkinschen Dörfer einer EU-Pseudo-Staatlichkeit und einer allzuständigen zentralistischen Bürokratie fallen unter dem Eindruck der Krise zur Seite, während die europäischen Regierungen ihre Souveränität zurückholen, die eine anmaßende Brüsseler Nomenklatura ihnen Schritt für Schritt zu entwinden versucht hatte.

Sie tun dies mit unterschiedlicher Entschlossenheit. Österreich und Tschechien hatten keine Bedenken, unverzüglich ihre Grenzen zu schließen und damit die Konstruktion von Schengen faktisch außer Kraft zu setzen, während Berlin sich noch an „europäische Lösungen“ klammerte, von denen niemand etwas wissen wollte.

Einige schießen bei der Wiederentdeckung des „sacro egoismo“ über das Ziel hinaus, etwa wenn Italien mit Polen und Tschechien über von letzteren einbehaltene Lieferungen von Schutzausrüstung in Streit gerät. Umgekehrt hatte Deutschland zunächst von der Schweiz bestellte und bezahlte Chargen an Schutzprodukten unter Berufung auf EU-Exportverbotsverfügungen zurückgehalten. 

Und während Italien beklagte, mit dem Corona-Massensterben von den EU-Partnern im Stich gelassen zu werden, flog Frankreich Intensivpatienten, für die es im Elsaß keine Betten mehr gab, zunächst nach Südfrankreich aus statt ins benachbarte Baden-Württemberg, wo noch Kapazitäten frei waren. 

Europäische Solidarität kann gleichwohl zwischen souveränen Nationalstaaten auf Augenhöhe stattfinden, ohne daß es dazu einer übergestülpten EU-Bürokratie bedarf. Das rief ausgerechnet die russische Regierung wieder ins Bewußtsein, als sie Ärzte und Intensivgerät bilateral nach Italien schickte.

Daß der Nationalstaat die politische Ebene ist, auf der Solidarität und die Übernahme kontrollierter Verantwortung nach innen und außen funktionieren, müssen die europäischen Regierungen und ihre Bürger erst wieder lernen. Auch und gerade die Deutschen, die jetzt aufpassen müssen, daß ihre Regierung die ihr übertragenen Krisenbefugnisse nicht überdehnt, mißbraucht und zum Dauerzustand macht.

Deutschland, das zwischen hedonistischer Verdrängung und EU-fixierter Verantwortungsflucht zu lange zögerte, das Heft des Handelns zu ergreifen, wird für die Bewältigung der Krise einen ähnlich hohen Preis zahlen wie die Einparteiendiktatur China, die wertvolle Zeit durch Vertuschung verlor. Gefestigte südostasiatische Demokratien wie Südkorea haben das Virus dagegen durch gezieltes Handeln und frühzeitige Abschottung rascher in den Griff bekommen.

Der souveräne Nationalstaat, der sich auf loyale Bürger stützen kann, ist gerade in Notzeiten die sicherste Bank und auch im 21. Jahrhundert ein Erfolgsmodell. Das ist eine der Erkenntnisse, die aus der Corona-Krise zu gewinnen sein wird.